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Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Titel: Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Hooper
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waren die Waggons so mit Frost überzogen und die Fenster mit Eiskristallen übersät, dass dem Zug etwas Ätherisches, Jenseitiges anhaftete: ein Geisterzug, der matt in dem von Gaslaternen trüb erleuchteten Bahnhof schimmerte. Grace ging zum Waggon der Bestatter, suchte sich einen Platz am Fenster und stellte sich vor, wie es aussehen musste, wenn der Zug sich durch die kalte Landschaft schlängelte, weiß glitzernd vom Frost und kalt wie der Tod selbst.
    Der Zug erreichte die Londoner Vorstädte, näherte sich einem Bahnübergang und stieß ein langes tiefesPfeifen aus – ein tieftrauriger Ton. Durchs Fenster sah Grace, dass einige Bauern, die auf den Feldern arbeiteten, ihr Werkzeug abgesetzt und den Hut abgenommen hatten und gesenkten Hauptes standen, solange der Zug vorbeifuhr. Einen Moment lang trat nahezu Stille ein, während der Zug an dem Übergang verlangsamte, ein ängstliches Schluchzen aus der dritten Klasse war zu hören, dann überquerte der Zug die Straße, zischender, heißer Dampf stieg auf, die Räder begannen lärmend zu rattern, und der Zug nahm wieder Fahrt auf.
    Kurz vor Brookwood gab es eine letzte dichte Dampfwolke, dann tauchten aus dem Nebel hohe Nadelbäume auf und schließlich ein gepflegtes Backsteingebäude. Es sah so gewöhnlich aus wie irgendeine beliebige Bahnstation auf dem Land, mit dem einzigen Unterschied, dass eine Reihe von Friedhofsmitarbeitern in schwarzen Gehröcken und Zylindern bereitstand, die sich tief verbeugten, als der Zug einfuhr. Während er mit lautem Quietschen der Bremsen zum Stehen kam, packten die Arbeiter der Bestattungsunternehmen ihre Würfelbecher, Karten und Flachmänner mit »einem Schluck zum Aufwärmen« ein, sprangen von dem Waggon herunter und brachten sich für ihren jeweiligen Trauerzug in Stellung. Auch Grace stieg aus und zog ihren Mantel und Schleier zurecht. Ihre heutige Beerdigung versprach, besonders schaurig zu werden, denn die Verstorbene war eine junge Frau, die am Tag vor ihrer Hochzeitbei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Sie sollte in ihrem Hochzeitskleid und Schleier beerdigt werden, und die Hochzeitstorte sollte beim anschließenden Leichenschmaus im Erfrischungsraum des Bahnhofsgebäudes verzehrt werden.
    Während Grace darauf wartete, dass Mr   Unwin seine letzten Anweisungen gab, nahm sie zum ersten Mal bewusst die Szenerie von Brookwood wahr. Bei ihrem vorherigen Besuch war sie zu sehr von ihrer Trauer erdrückt gewesen, zu verstört von allem, was ihr zugestoßen war, hatte zwar alles gesehen, doch kaum etwas wirklich wahrgenommen. Jetzt sah sie mit klarem und mitfühlendem Blick die Grüppchen von Trauernden, die sich mit kummervollen Gesichtern schweigend und verunsichert über den Bahnsteig bewegten, wie seltsame schwarze Insekten.
    Sie fröstelte. Es war ein eisiger Tag, und obwohl sie ein neues Paar dicker, wollener Strümpfe unter ihren schwarzen Röcken und Unterröcken trug, spürte sie die schneidende Kälte. Auch für Lily hatte sie ein paar Strümpfe erstanden, die sie ihr bringen wollte, sobald sich eine Gelegenheit bot. Sie hatte jetzt ihre Schwester seit drei Wochen nicht mehr gesehen und hatte eine Menge zu erzählen, angefangen bei dem Abend, an dem sie den gut aussehenden Prinz Albert in seiner Kutsche erspäht hatte.
    Als die Särge der ersten Klasse leise aus dem Waggon geladen wurden, gab Mr   Unwin ihr ein Zeichen, sich vor dem Sarg aufzustellen. Auf Wunsch derAngehörigen hatte Grace in der vorigen Nacht eine schweigende Totenwache am offenen Sarg der Verstorbenen gehalten, damit jene Frauen aus der Verwandtschaft, die sich einer Fahrt zur Beerdigung nach Brookwood hinaus nicht gewachsen sahen, zu Hause von der Toten Abschied nehmen konnten. Die ganze Nacht hatte Grace kniend neben der aufgebahrten Toten zugebracht, und so war sie jetzt nicht nur durchgefroren und hungrig, sondern auch noch sehr müde. (Die Angehörigen hatten dem Bestatter dafür eine Guinee extra bezahlt, von der Grace allerdings nicht nur nichts abbekam, sondern nicht einmal etwas wusste.)
    Der mit weißem Samt ausgekleidete Sarg wurde vorsichtig auf den bereitstehenden, von Pferden gezogenen Leichenwagen gehoben, dann setzte sich der Zug in Bewegung und nahm Kurs auf die frostüberzogenen Bäume, angeführt von Grace, die mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen vor dem Sarg herging. Ihr folgte der übliche Beerdigungstross: Federnträger, Stäbchenträger und zwei Kinder, die man für den Anlass als Sargbegleiter auf der

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