Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
von ihrem Verwandten und ließen sich dann von Mr George Unwin langsam durch den Gang zurück zu den Stufen geleiten, die sie wieder an die Oberwelt bringen würden.
Bis auf einen.
»Entschuldigung«, kam es flüsternd, »aber sind wir uns nicht in Brookwood begegnet?«
Grace erschrak und blickte beunruhigt auf. Vor ihr stand Mr James Solent, den Zylinder unterm Arm. Sie spürte, wie sie rot wurde, und war froh, dass er dies dank ihres Schleiers wohl nicht bemerken konnte.
»Wobei es nicht ganz leicht für mich ist, Sie in der Dunkelheit und mit diesem ganzen Tand zu erkennen«, fuhr er fort und deutete dabei auf Graces Schleier, »aber Sie sind es doch, oder? Ich fürchte, ich bin etwas im Nachteil, weil Sie mir Ihren Namen nicht verraten haben.«
Grace fasste sich wieder und knickste. »Ja, ich bin es. Mein Name ist Grace, Sir.«
»Nennen Sie mich doch James, bitte. Geht es Ihnen gut, Grace?«
»Danke, ja.«
»Ich habe oft an Sie denken müssen seit jenem Tag in Brookwood, weil Sie so zart und zerbrechlich gewirkthaben. Ich habe mich gefragt, wie Sie wohl zurechtkommen.«
»Danke für Ihre Besorgnis«, sagte Grace ein wenig steif und dachte daran, wie sie seine Kanzlei aufgesucht hatte und abgewiesen worden war. Sie deutete auf ihre Trauerkleider. »Aber wie Sie sehen, haben sich meine Lebensumstände ein wenig gebessert.«
»In der Tat«, sagte er und zog eine Braue hoch. »Sie scheinen bei jener wachsenden Schar von Gewerbetreibenden untergekommen zu sein, die mit dem Tod Geschäfte machen.«
Grace nickte verlegen, denn er schien dies zu missbilligen.
»Darf ich fragen, wie es dazu kam?«
»Es war, wenn ich so sagen darf, nicht unbedingt, was ich mir gewünscht habe«, sagte Grace leise, »aber meine Schwester und ich mussten unser Zimmer räumen und hatten keine Bleibe mehr. Wir wären auf der Straße gelandet, wenn die Unwins uns nicht beide aufgenommen hätten.«
James schüttelte erstaunt den Kopf. »Entschuldigen Sie meine berufsbedingte Neugier, aber wie kam es denn, dass Sie Ihr Zuhause verloren haben?«, fragte er. »Konnten Sie die Miete nicht mehr bezahlen?«
»Oh doch!«, rief Grace fast ein wenig entrüstet aus. »Aber eines Nachmittags kamen wir nach Hause, und da war das Mietshaus verrammelt. Uns wurde nur mitgeteilt, die Gegend werde saniert.«
James seufzte. »Ich fürchte, so geht es im Momentin ganz London zu: Geschäftsleute kaufen den Grund und Boden für die Eisenbahn, Büros und Industrie auf. Sie versprechen, neue Häuser zu bauen, doch dazu kommt es dann oft nicht.«
»Das ist doch nicht recht!«, sagte Grace. »Was soll aus all denen werden, die plötzlich ohne Obdach sind? Kann man denn gar nichts dagegen tun?«
»Sehr wenig, fürchte ich. Es gibt noch die Wohltätigkeitsorganisationen, an die man sich wenden kann, und die einen vielleicht aufnehmen.«
»Das hätte ich nicht ertragen«, erwiderte Grace heftig, da er auf das Arbeitshaus anzuspielen schien. »Nachdem das passiert war – nachdem wir unser Zuhause verloren hatten –, kam ich, um Sie um Rat zu bitten«, sagte sie auf einmal, entschlossen, ihn mit der Erfahrung, die sie vor seiner Tür machen musste, zu konfrontieren.
»Wirklich?«
Grace versuchte einzuschätzen, ob er tatsächlich überrascht war oder nur so tat, kam jedoch zu keinem eindeutigen Ergebnis. »Der Mann, der an die Tür Ihrer Kanzlei kam, wies mich ab. Er war sehr schroff.«
»Dann kann ich mich nur dafür entschuldigen«, sagte er, »und Meakers anweisen, Ihnen beim nächsten Mal mit absoluter Höflichkeit zu begegnen. Bitte glauben Sie mir, dass ich … «
Doch bevor er den Satz vollenden konnte, ertönten Schritte im Gang, und Mr Unwin tauchte aus der Dunkelheit auf. Grace, die gebucht worden war, umnoch weitere zwei Stunden stumm neben dem Sarg Totenwache zu halten, verfiel sofort wieder in regloses Schweigen, senkte den Blick zu Boden und faltete die Hände vor der Brust. James Solent, der so aussah, als hätte er noch einiges auf dem Herzen, was er Grace gerne mitgeteilt hätte, grüßte Mr Unwin mit einem kurzen Nicken, setzte seinen Zylinder auf und ging davon.
Kapitel 17
Vier Unterhaltungen
Miss Charlotte Unwin hatte noch nie vorher eine Waschküche betreten, und sie hoffte, dass sie das auch nie wieder tun müsste. Nicht nur die Eiseskälte dort drin machte den Raum so ungemütlich, sondern auch das düstere Licht, der Ziegelsteinboden, die hässliche Spüle aus Blei und die faserigen Holzplatten der
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