Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
besten Sargbegleiterinnen kennenlerne.«
Grace beschlich sogleich das Gefühl, bespitzelt zuwerden, und so wusste sie nicht, was sie darauf entgegnen sollte.
»Nun hab ich dich erschreckt! Bitte, du brauchst nicht zu verstummen«, sagte Charlotte Unwin. »Ich versichere dir, ich habe keine bösen Absichten.«
Grace räusperte sich. »Nein, bestimmt nicht. Ich habe Sie vorher nicht bemerkt, Miss Charlotte. Waren Sie im Zug?«
»Nein, Mama und ich kamen mit der Kutsche her, und jetzt ist sie am Grab und kümmert sich um die armen Eltern der toten Braut.« Es trat eine Stille ein. »Du heißt Grace, nicht wahr? Und wie lange arbeitest du schon für meine Familie, Grace?«
»Ein paar Monate«, antwortete Grace. »Und ich muss Ihnen dafür danken, dass Sie ein so liebenswürdiges Interesse an meiner Schwester zeigen. Sie hat mir erzählt, wie Sie sich um sie kümmern«, sagte Grace.
»Nicht der Rede wert«, sagte Charlotte Unwin. »Sie ist so eine fleißige Arbeiterin und … und so eine muntere Person, deine Schwester.« Sie lachte kurz auf. »Allerdings bin ich keineswegs ihr einziger Freund.«
Grace schaute sie fragend an. »Sie meinen – die anderen Hausangestellten?«
»Nein, ich meine einen jungen Mann. Einen Verehrer, der für einen unserer Nachbarn als Stallbursche arbeitet.«
»Sie hat einen Verehrer?«, fragte Grace völlig verblüfft.
»Allerdings! Und ich denke, seine Absichten sind ehrenwert.«
Grace schüttelte den Kopf. »Das muss ein Irrtum sein. Meine Schwester ist … ist … « Sie suchte nach einem Ausdruck, um Lilys Naturell zu beschreiben, doch Charlotte Unwin schien zu wissen, was sie meinte.
»Keine Sorge! Der fragliche junge Mann ist ein einfacher Bursche vom Land«, sagte sie. »Ich denke, die beiden passen gut zusammen.«
Grace fiel es schwer, diese Neuigkeit zu glauben. Miss Charlotte musste sich täuschen. Lily konnte doch unmöglich einen Verehrer haben! Sie hatte jedenfalls nichts davon erwähnt, als Grace sie besucht hatte, und es war höchst unwahrscheinlich – oder nahezu unmöglich, genau genommen –, dass sie so etwas für sich behalten konnte.
»Bitte, mach dir keine weiteren Gedanken darüber«, sagte Charlotte Unwin. »Es ist eine angemessene Verbindung, und ich bin mir sicher, deine Familie wird nichts einzuwenden haben.«
»Wir haben keine Familie«, murmelte Grace. Sie war immer noch fassungslos. »Es gibt nur Lily und mich.«
»Oh, natürlich!«, beeilte sich Charlotte Unwin zu sagen. »Entschuldige bitte. Lily hat mir ja erzählt, dass euer Vater fortging und eure Mutter starb. Ihr habt in Wimbledon gewohnt, nicht wahr?«
Grace nickte.
»Eine gute Freundin von mir wohnt unweit von der High Street. Habt ihr dort in der Nähe gewohnt?«
»Ja, nicht weit davon. Mama hatte ein Cottage an der Wiese für uns gemietet – ich kann mich noch vage daran erinnern.«
»Wie reizend! Aber nicht das kleine weiße, wo den ganzen Sommer über lauter Blumen blühen?«
Grace schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es weiß war. Vor dem Haus stand ein Maulbeerbaum, und danach war es benannt.«
»Ach, wie schön!«, sagte Charlotte Unwin. Allerdings schien es auf einmal, als hätte sie diese spezielle Unwin-Angestellte nun zur Genüge kennengelernt, denn sie sagte, sie müsse nun zu ihrer Mutter zurück, und verabschiedete sich von Grace.
Um nicht mit ihr gehen zu müssen, gab Grace vor, in der entgegengesetzten Richtung noch etwas zu erledigen zu haben, und ging ein wenig unter den Bäumen spazieren, um über das, was Miss Unwin gesagt hatte, nachzudenken. Das konnte doch unmöglich wahr sein, dass Lily einen Verehrer hatte?
Grace versuchte, ein wenig Abstand von diesen beunruhigenden Nachrichten zu bekommen, indem sie die Inschriften auf den Grabsteinen zu lesen begann, doch die schienen alle nur zu sagen, dass unsere Zeit auf Erden kurz war und dass man, ehe man sich’s versah, schon wieder abtreten musste, was auch nicht gerade eine aufmunternde Lektüre war. Nach vielen Seufzern über Gräbern von Kindern, die viel zu frühaus dem Leben geschieden waren, machte sich Grace schließlich in den Erfrischungsraum der dritten Klasse auf, um einen Teller heiße Suppe zu essen, denn ihr war inzwischen fast schwindlig vor Hunger. Allerdings durfte sie sich dabei von keinem Unwin erwischen lassen, denn essen oder trinken bei der arbeit war strikt verboten. Sargbegleiterinnen, fand Mrs Unwin, sollten nicht mehr essen oder trinken, als sie reden sollten,
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