Gehen (German Edition)
gewesen, sage ich zu Scherrer, Karrers gereizter Zustand verhinderte, daß ich noch ein Wort gegen sein Vorhaben, in den rustenschacherschen Laden hineinzugehen, gesagt habe. Wenn man die Natur Karrers kennt, sage ich zu Scherrer, so Oehler, weiß man, sagt Karrer, er geht in den rustenschacherschen Laden hinein, daß es zwecklos ist, etwas dagegen zu tun. Gleich was Karrer vorhatte in solchen Zuständen, er war daran nicht zu hindern, davon nicht abzubringen. Einerseits war es Rustenschacher, der ihn in den rustenschacherschen Laden gehen ließ, andererseits der Neffe Rustenschachers, beide stießen ihn im Grunde ab, wie ihn ja überhaupt im Grunde alle Menschen abstießen, auch meine Person stieß ihn ab, man muß das wissen, er war immer von allen Leuten abgestoßen, auch von denen, mit welchen er auf eigenen Wunsch verkehrte, verkehrte man auf seinen eigenen Wunsch mit ihm, war man von der Tatsache nicht ausgeschlossen, daß Karrer von allen Menschen abgestoßen war, sage ich zu Scherrer, sagt Oehler. Kein Mensch miteiner so großen Empfindlichkeit. Kein Mensch unter solchen Bewußtseinsschwankungen. Kein Mensch mit einer so hohen Reizbarkeit und mit einer so großen Verletzungsbereitschaft , sage ich zu Scherrer, sagt Oehler. Die Wahrheit ist, daß sich Karrer ständig beobachtet fühlte und daß er immer so reagierte, als fühlte er sich ständig beobachtet, dadurch hatte er niemals auch nur einen einzigen Augenblick Ruhe. Diese ununterbrochene Ruhelosigkeit ist es auch, die ihn vor allen anderen auszeichnet, wenn ständige Ruhelosigkeit Auszeichnung eines Menschen, einer Person sein kann, sage ich zu Scherrer, so Oehler. Und mit einem ständig ruhelosen Menschen, der sich immer einbildet, ruhelos zu sein auch dann, wenn er in Wirklichkeit gar nicht ruhelos ist, zusammen zu sein, ist das schwierigste, sage ich zu Scherrer, sagt Oehler. Auch wenn nichts auf eine oder mehrere Ursachen von Ruhelosigkeit, wenn alles nicht auf die geringste Ruhelosigkeit hindeutete, war Karrer ruhelos, weil er das Gefühl hatte, (die Empfindung) ruhelos zu sein, weil er Ursache dazu habe, wie er glaubte. Die Theorie, wonach man alles ist, was man sich einbildet, zu sein, war an Karrer zu studieren, wie er sich auch immer einbildete, und wahrscheinlich sein ganzes Leben lang einbildete, todkrank zu sein, ohne zu wissen, an welcher Krankheit er todkrank und dadurch wahrscheinlich und sicher nach dieser Theorie, sage ich zu Scherrer, sagt Oehler, tatsächlich todkrank gewesen ist. Wenn wir uns einen Geisteszustand , gleich welchen, einbilden , sind wir in diesem Geisteszustand, also auch in dem Krankheitszustand, den wir uns einbilden, in jedem Zustand, den wir uns einbilden. Und wir lassen uns nicht in dem, was wir uns einbilden, stören, sage ich zu Scherrer und also das Eingebildete durch nichts, vor allem durch nichts von außen , aufheben. Die unglaubliche Selbstsicherheit einerseits und die unglaubliche Haltund Hilflosigkeit der psychiatrischen Ärzte andererseits, denke ich, wie ich Scherrer gegenübersitze und diese Sätze über Karrer und vor allem über Karrers Verhalten im rustenschacherschenLaden, sage, sagt Oehler. Scherrer hörte aufmerksam zu, aber ganz ohne Scharfsinn, sagt Oehler. Nach kurzer Zeit frage ich mich, warum sitze ich Scherrer gegenüber und mache diese Angaben, diese Äußerungen über Karrer? Mit dieser Frage beschäftigte ich mich aber nicht lange, um Scherrer keine Gelegenheit zu geben, sich über mein dann doch ungewöhnliches Verhalten ihm gegenüber Gedanken zu machen, weil ich mich ja bereit erklärt hatte, ihm an diesem Nachmittag möglichst viel über Karrer zu sagen. Besser wäre gewesen, denke ich jetzt, aufzustehen und wegzugehen, ohne Rücksicht darauf, was Scherrer denkt, wenn ich, entgegen meiner Versicherung, ein oder zwei Stunden über Karrer auszusagen, weggehe, dachte ich, so Oehler. Wenn ich nur hinausgehen könnte, sagte ich mir, während ich Scherrer gegenübersaß, hinaus aus diesem fürchterlichen vergitterten, weißgestrichenen Zimmer und weggehen, möglichst weit weggehen. Aber wie jeder, der einem psychiatrischen Arzt gegenübersitzt, hatte ich nur den einen Gedanken, keinerlei Verdacht in meinem Gegenüber zu erwecken im Hinblick auf meinen Geisteszustand und das heißt im Hinblick auf meine Zurechnungsfähigkeit. Daß ich im Grunde gegen Karrer handelte, indem ich zu Scherrer gegangen bin, dachte ich, sagte Oehler. Mein Gewissen war plötzlich unrein , wissen Sie was das heißt,
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