Gehetzte Uhrmacher
Nonne oder Dealer, Sachs, ein Mord bleibt ein Mord. Was hast du sonst noch?«
»Die Asche aus dem Kamin – das Labor konnte nicht viel wiederherstellen, aber das hier war dabei.« Sie hielt ein Foto hoch, auf dem eine Tabelle oder ein Auszug aus irgendwelchen Finanzunterlagen abgebildet war. Die Einträge schienen sich auf mehrere Millionen Dollar zu belaufen. »Man hat einen Teil eines Logos oder so darauf entdeckt. Die Techniker sind noch bei der Überprüfung.
Und sie schicken die Einträge an einen unserer Buchhaltungsspezialisten. Mal sehen, ob der sich einen Reim darauf machen kann. Außerdem wurde ein Teil eines Terminkalenders gefunden. Ein Ölwechsel für den Wagen, ein Termin beim Friseur – wohl kaum die Dinge, die man sich für die Woche des eigenen Selbstmords vornimmt, würde ich sagen... Am Tag vor seinem Tod ist er in der St. James Tavern gewesen.« Sie wies auf ein Blatt – die entsprechende Seite aus dem Terminkalender.
Nancy Simpson hatte eine kurze Notiz beigefügt. »Bar an der Neunten Straße Ost. Ärmliche Gegend. Warum sollte ein reicher Wirtschaftsprüfer dort hingehen? Wirkt seltsam.«
»Nicht unbedingt.«
Amelia sah Rhyme an und ging dann in eine Ecke des Zimmers. Er verstand den Wink und fuhr ihr mit seinem roten Storm Arrow hinterher.
Sachs hockte sich neben ihn. Er fragte sich, ob sie wohl seine Hand nehmen würde (seit er rechts in Fingern und Handgelenk wieder etwas spürte, war das Händchenhalten für sie beide sehr wichtig geworden). Aber zwischen ihrem Privat- und Berufsleben verlief eine hauchdünne Trennlinie, und Sachs verhielt sich in diesem Moment strikt professionell.
»Rhyme«, flüsterte sie.
»Ich weiß, was...«
»Lass mich ausreden.«
Er gab einen Grunzlaut von sich.
»Ich muss dieser Sache nachgehen.«
»Eine Frage der Prioritäten. Dein Fall ist weniger dringlich als der des Uhrmachers, Sachs. Was auch immer mit Creeley geschehen ist, sogar falls er ermordet wurde – es dürfte sich vermutlich nicht um einen Serientäter handeln. Der Uhrmacher ist einer. Er muss für uns an erster Stelle stehen. Die Beweise und Spuren im Fall Creeley laufen dir nicht weg. Lass uns erst den anderen Kerl festnageln.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin anderer Ansicht, Rhyme. Ich habe die Sache ins Rollen gebracht. Ich habe angefangen, Fragen zu stellen. Du weißt, wie das läuft. Der Fall spricht sich allmählich herum. Beweise und Zeugen könnten jederzeit von der Bildfläche verschwinden.«
»Und der Uhrmacher pirscht sich wahrscheinlich in diesem Moment an sein nächstes Opfer heran. Vielleicht hat er es schon umgebracht... Und glaub mir, falls noch ein Mord geschieht und wir den Anschluss verlieren, ist die Hölle los. Baker hat mir gesagt, dass wir von ganz oben angefordert worden sind.«
Man hat darauf bestanden ...
»Ich werde nicht den Anschluss verlieren. Falls es einen weiteren Tatort gibt, werde ich ihn untersuchen. Falls Bo Haumann einen taktischen Zugriff durchführt, werde ich vor Ort sein.«
Rhyme runzelte übertrieben deutlich die Stirn. »Ein taktischer Zugriff? Erst das Gemüse aufessen, dann den Nachtisch.«
Sie lachte, und nun spürte er den Druck ihrer Hand. »Komm schon, Rhyme, wir sind in Copland. Niemand arbeitet immer nur an einem Fall. Auf den meisten Schreibtischen der Abteilung für Kapitalverbrechen liegt ein Dutzend Akten. Da werde ich ja wohl mit zweien zurechtkommen.«
Rhyme hatte ein ungutes Gefühl, konnte es aber nicht in Worte fassen. Er zögerte.
»Lass es uns hoffen, Sachs. Lass es uns hoffen.«
Er gab ihr seinen Segen, aber wirklich glücklich war er nicht damit.
... Acht
Er hat diesen Schuppen aufgesucht?
Amelia Sachs stand neben einem nach Urin stinkenden Pflanzkübel, aus dem ein toter gelber Stängel ragte, und spähte durch das dreckige Fenster.
Angesichts der Adresse hatte sie zwar mit einer armseligen Kaschemme gerechnet, aber nicht mit einer dermaßen armseligen. Sachs befand sich vor der St. James Tavern, auf der Kante einer zerbrochenen Betonplatte, die schräg aus dem Gehweg ragte. Die Bar lag an der Neunten Straße Ost in Alphabet City, das seinen Spitznamen den Nord-Süd-Avenues A, B, C und D verdankte, die mitten hindurch verliefen. Bis vor einigen Jahren hatte diese Gegend zu den gefährlichsten Ecken der Stadt gezählt, weil hier die einst großen Bandenkriege der Lower East Side fortgesetzt worden waren. Seitdem hatte die Lage sich etwas gebessert (einstige Crackhäuser verwandelten sich in teure
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