Gehetzte Uhrmacher
forensische Untersuchungen interessierte, zog das Zusammenwirken der Beteiligten sie unwillkürlich in seinen Bann. Vor allem Rhyme und Sachs bildeten ein eingespieltes Team.
Zehn Minuten später blickte Mel Cooper, der Techniker, von einem Computermonitor auf. »In Anbetracht des Radstands und dieser speziellen braunen Faser handelt es sich vermutlich um einen Ford Explorer im Alter von zwei oder drei Jahren.«
Kathryn war beeindruckt.
»Eher der Ältere«, sagte Rhyme.
Wieso das?, fragte Dance sich.
Sachs sah ihr Stirnrunzeln und erklärte es. »Die Bremsen haben gequietscht.«
Ah.
Sellitto wandte sich an Dance. »Das war gut, Kathryn. Sie sind ihm auf die Schliche gekommen.«
»Wie haben Sie das angestellt?«, fragte Sachs.
Dance erläuterte ihr Vorgehen. »Zunächst habe ich einen Rundumschlag gestartet und alles angesprochen, was er uns erzählt hatte – die Bar, die U-Bahn, das Geld in der Klammer, die Gasse, den Ablauf der Ereignisse und die Örtlichkeiten. Bei jeder seiner Antworten habe ich auf die kinesische Reaktion geachtet. Das Geld war für ihn ein besonders heikles Thema. Was hatte er damit vorgehabt, das er lieber hätte sein lassen? Ein extrovertierter, narzisstischer Geschäftsmann wie er? Meiner Ansicht nach kamen da nur Drogen oder Sex in Frage. Aber ein Wall-Street-Börsenmakler würde seine Drogen nicht ohne Weiteres auf der Straße kaufen; er hätte irgendeinen direkten Kontakt. Also blieben nur die Nutten übrig. Ganz einfach.«
»Ziemlich raffiniert, meinst du nicht auch, Lincoln?«, fragte Cooper.
Dance stellte überrascht fest, dass der Kriminalist die Achseln zucken konnte. »Es hat funktioniert«, sagte er dann unverbindlich. »Wir haben auf diese Weise neue Spuren erhalten, die wir sonst erst nach einer Weile entdeckt hätten.« Sein Blick richtete sich wieder auf die Tafel.
»Ach, hör doch auf, Linc. Wir kennen nun den Fahrzeugtyp, und zwar nur dank ihr.« Sellitto wandte sich an Dance. »Nehmen Sie es ihm nicht übel. Er traut Zeugen nicht.«
Rhyme sah den Detective ungehalten an. »Das ist kein Wettbewerb, Lon. Unser Ziel ist die Wahrheit, und ich habe nun mal die Erfahrung gemacht, dass Zeugen weniger verlässlich sind als greifbare Beweise. Das ist alles. Nichts davon ist persönlich gemeint.«
Dance nickte. »Komisch, dass Sie das sagen. Ich schärfe den Leuten in meinen Vorträgen genau das Gleiche ein: Für uns als Polizisten muss es in erster Linie nicht darum gehen, die bösen Jungs ins Gefängnis zu werfen, sondern darum, zur Wahrheit vorzudringen.« Auch sie zuckte die Achseln. »Wir hatten in Kalifornien gerade einen interessanten Fall – ein Todeskandidat wurde einen Tag vor der geplanten Hinrichtung entlastet. Die Anwältin des Mannes hatte einen Privatdetektiv angeheuert, den ich gut kenne. Er hat drei Jahre benötigt, um herauszufinden, was wirklich passiert ist, und das ist nur geglückt, weil er beständig alles und jeden hinterfragt hat. Der Häftling hatte noch dreizehn Stunden zu leben, und dann stellte sich heraus, dass er unschuldig war... Falls
dieser Privatdetektiv nicht all die Jahre nach der Wahrheit gesucht hätte, wäre der Mann jetzt tot.«
»Und ich weiß, wie es dazu gekommen ist«, sagte Rhyme. »Er wurde aufgrund einer falschen Zeugenaussage verurteilt, und eine DNS-Analyse hat seine Unschuld bewiesen. Richtig?«
Dance sah ihn an. »Nein, es gab für den Mord keine Zeugen. Der echte Täter hat falsche Spuren gelegt und dadurch einen Unschuldigen belastet.«
»Was sagt man dazu?«, rief Sellitto. Sowohl er als auch Sachs lächelten. Rhyme warf den beiden einen frostigen Blick zu. »Nun«, sagte er zu Dance, »wie erfreulich, dass alles gut ausgegangen ist … Jetzt sollte ich mich aber besser wieder an die Arbeit machen.« Er wandte sich erneut der Tafel zu.
Dance verabschiedete sich von allen Anwesenden und zog sich ihren Mantel über. Lon Sellitto brachte sie zur Tür. Draußen auf dem Bürgersteig legte Kathryn die Ohrhörer des iPod an und schaltete das Gerät ein. Ihre aktuelle Auswahl enthielt Folkrock, irische Musik und ein paar ordentlich laute Titel der Rolling Stones (bei einem Konzert hatte sie zum Vergnügen ihrer Freunde einmal eine kinesische Analyse von Mick Jagger und Keith Richards zum Besten gegeben).
Als sie ein Taxi heranwinkte, stellte sie an sich plötzlich ein seltsames, verwirrendes Gefühl fest. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, was es damit auf sich hatte. Sie empfand ein leises Bedauern
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