Gehetzte Uhrmacher
sie fühlte sich unbehaglich. Ihr Blick schweifte zur Vordertür, die sie nie benutzte. Davor standen Kisten aufgestapelt. Die Tür war verschlossen... oder etwa nicht?
Joanne kniff die Augen zusammen, doch durch die Scheibe fiel grelles Sonnenlicht herein, und sie konnte es nicht genau erkennen. Sie ging um den Tisch herum, um sich zu vergewissern.
Sie drehte den Türgriff. Ja, es war abgeschlossen. Joanne blickte auf und erschrak.
Nur ein kurzes Stück von ihr entfernt stand draußen auf dem Bürgersteig ein großer fetter Mann und starrte sie an. Er beugte
sich vor, drückte das Gesicht an die Scheibe und schirmte mit beiden Händen seine Augen ab. Er trug eine altmodische Pilotenbrille mit verspiegelten Gläsern, eine Baseballmütze und einen cremefarbenen Parka. Wegen der Helligkeit draußen und der verschmierten Scheiben merkte er nicht, dass Joanne fast genau vor ihm stand.
Sie erstarrte. Es kam gelegentlich vor, dass jemand neugierig hineinsah, aber die angespannte Haltung dieses Mannes wirkte irgendwie bedrohlich. Die Eingangstür bestand aus normalem Glas; jeder konnte es mit einem Hammer oder einem Ziegelstein zerschmettern. Und in diesem abgelegenen Teil von SoHo würde womöglich niemand mitbekommen, wenn ein Überfall geschah.
Joanne wich zurück.
Vielleicht gewöhnten seine Augen sich an das Licht oder er fand ein Stück saubere Scheibe – jedenfalls bemerkte er sie. Überrascht zuckte er zurück. Dann schien er nachzudenken. Er drehte sich um und verschwand.
Joanne trat vor und presste nun ihrerseits das Gesicht an die Scheibe, aber sie konnte nicht sehen, wohin er gegangen war. Das war verdammt unheimlich gewesen – wie er einfach so dagestanden hatte, vornübergebeugt, mit gesenktem Kopf, die Hände in den Taschen und diese komische Sonnenbrille auf der Nase.
Joanne schob die Vasen beiseite und sah erneut nach draußen. Der Mann war nicht mehr da. Dennoch wollte sie lieber von hier weg und zum Laden gehen, die Einnahmen des Vormittags überprüfen und mit ihren Verkäufern plaudern, bis Kevin kam. Sie zog ihren Mantel an, zögerte kurz und verließ die Werkstatt dann durch die Hintertür. Sie sah sich um. Keine Spur von dem Kerl. Sie ging nach Westen in Richtung Broadway, auf demselben Weg, den auch der Dicke eingeschlagen hatte. Als sie eine von der Sonne beschienene Stelle erreichte, kam sie ihr beinahe warm vor. Die Helligkeit blendete sie, und Joanne kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Ein Stück voraus zweigte eine Gasse ab. War der Mann dorthin verschwunden? Hatte er sich versteckt und lauerte ihr auf?
Sie machte kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung, nach Osten, um in weitem Bogen über die Prince Street zum Broadway zu gelangen. Dort war noch weniger los, aber zumindest würde sie an keiner Gasse vorbeikommen. Sie zog sich den Mantel fester
um den Leib und eilte mit gesenktem Kopf davon. Wenig später verblasste die Erinnerung an den fetten Mann, und sie dachte wieder über Kevin nach.
Dennis Baker fuhr nach Downtown, um über ihre Fortschritte Bericht zu erstatten. Der Rest des Teams widmete sich weiterhin den Spuren.
Das Faxgerät erwachte zum Leben. Rhyme sah sofort hin und hoffte auf eine hilfreiche Neuigkeit, aber die Seiten waren für Amelia Sachs bestimmt. Während sie las, achtete Rhyme auf ihr Gesicht. Er kannte diese Miene. Wie ein Hund auf der Jagd nach einem Fuchs.
»Was gibt’s, Sachs?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist die Analyse der Proben aus Ben Creeleys Haus in Westchester. Für die Fingerabdrücke existiert kein IAFIS-Eintrag, aber auf einem Teil des Kaminbestecks und Creeleys Schreibtisch hat sich eine Ledertextur abgezeichnet. Wer trägt Handschuhe, wenn er eine Schublade öffnet?«
Es gab natürlich keine derartige Datenbank, aber falls Sachs bei einem Verdächtigen auf ein Paar Handschuhe stieß, das zu den Texturspuren passte, würde dieses Indiz ihn eindeutig mit dem Fundort in Verbindung bringen. Das war fast so gut wie ein deutlicher Fingerabdruck.
Sachs las weiter. »Der Schlamm, den ich vor dem Kamin sichergestellt habe, passt nicht zu der Erde in Creeleys Garten. Der Säureanteil ist höher, und es finden sich einige Schadstoffe darin. Wie aus einem Industriegebiet.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Im Kamin gibt es Reste von verbranntem Kokain.« Sie sah Rhyme an und lächelte matt. »Wie schade, wenn mein erstes Mordopfer sich als gar nicht so unschuldig erweisen sollte.«
Rhyme zuckte die Achseln. »Ob
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