Gehetzte Uhrmacher
Apartmentgebäude mit Aussicht), aber es ging hier immer noch wild zu. Im Schnee zu Sachs’ Füßen steckte eine gebrauchte Einwegspritze, und auf der Fensterbank keine zwanzig Zentimeter vor ihrem Gesicht lag eine Neun-Millimeter-Patronenhülse.
Was, zum Teufel, hatte der Wirtschaftsprüfer und Risikokapitalgeber, doppelte Hausbesitzer und BMW-Fahrer Benjamin Creeley am Tag vor seinem Tod an einem Ort wie diesem verloren gehabt?
Im Augenblick war in der großen, heruntergekommenen Kneipe nicht allzu viel los. Durch das schmutzige Fenster konnte Amelia ein paar ältere Gäste an der Theke und an einigen der Tische ausmachen: schwammige Frauen und ausgemergelte Männer, die viele – oder den größten Teil – ihrer täglichen Kalorien aus der Flasche zu sich nahmen. In einem kleinen Hinterzimmer saßen mehrere Weiße in Jeans, Arbeitskleidung, Flanellhemden. Es waren vier, einer lauter als der andere – Amelia konnte ihre barschen Stimmen und das johlende Lachen noch durch die Scheibe hören. Sie musste unwillkürlich
an die Schläger denken, die Stunde um Stunde in den Treffpunkten der Mafia herumlungerten, manche dumm, andere faul – aber alle gefährlich. Schon auf den ersten Blick erkannte sie, dass diese Männer ohne jeden Skrupel andere Menschen verletzen würden.
Sachs ging hinein und setzte sich auf einen Hocker an der Schmalseite der L-förmigen Theke, wo man sie nicht sofort bemerken würde. Hinter dem Tresen stand eine Frau von ungefähr fünfzig Jahren, mit schmalem Gesicht, roten Fingernägeln und der hochgesteckten Frisur einer Countrysängerin. Sie wirkte müde. Das liegt nicht daran, dass sie schon alles erlebt hat, dachte Sachs, sondern daran, dass alles, was sie erlebt hat, an Orten wie diesen stattgefunden hat.
Amelia bestellte eine Cola Light.
»He, Sonja«, rief eine Stimme aus dem Hinterzimmer. In dem schmierigen Spiegel hinter der Bar konnte Sachs erkennen, dass sie zu einem blonden Mann mit äußerst enger Jeans und einer Lederjacke gehörte. Er hatte ein spitzes Gesicht und schien bereits einige Gläser geleert zu haben. »Dickey hier will dich. Er ist so schüchtern. Komm doch mal her. Komm her und statte dem schüchternen Knaben einen Besuch ab.«
»Leck mich«, rief ein anderer. Vermutlich Dickey.
»Komm her, Sonja, meine Süße! Setz dich auf seinen Schoß. Das dürfte echt bequem sein. Ganz glatt. Ohne Beule.«
Schallendes Gelächter.
Sonja wusste, dass die Männer sich nur über sie lustig machten, aber sie ging darauf ein. »Dickey? Der ist jünger als mein Sohn.«
»Kein Problem – seine eigene Mutter hat er schon flachgelegt.«
Wiehern und Grölen.
Sonja sah Sachs an und wandte gleich wieder den Blick ab, als sei sie dabei ertappt worden, wie sie dem Feind Vorschub leistete. Ein Vorteil bei Betrunkenen ist immerhin, dass sie nichts besonders lange durchhalten – ob nun Grausamkeit oder Euphorie -, und so drehte das Gespräch der Männer sich schon bald darauf um Sport und schmutzige Witze. Sachs nippte an ihrem Glas. »Na, wie sieht’s aus?«, wandte sie sich an Sonja.
Die Frau setzte ein unerschütterliches Lächeln auf. »Alles bestens.« Sie hatte kein Interesse an Mitleid, vor allem nicht von einer
Frau, die jünger und hübscher war und nicht in einer Kneipe wie dieser arbeiten musste.
In Ordnung. Sachs kam zur Sache. Sie ließ unauffällig ihre Dienstmarke aufblitzen und zeigte der Frau dann ein Foto von Benjamin Creeley. »Haben Sie diesen Mann schon mal hier gesehen?«
»Den? Ja, ein paarmal. Worum geht’s denn?«
»Haben Sie ihn gekannt?«
»Nicht wirklich. Ich hab ihm bloß ein paar Drinks serviert. Wein, das weiß ich noch. Er wollte Rotwein. Unser Wein hier ist beschissen, aber er hat ihn getrunken. Er war ein anständiger Kerl. Nicht wie manch andere.« Sie brauchte nicht in Richtung des Hinterzimmers zu schauen, um klarzumachen, wen sie meinte. »Aber ich habe ihn jetzt eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Etwa seit einem Monat. Bei seinem letzten Besuch hat es einen heftigen Streit gegeben, also dachte ich mir schon, dass er nicht wiederkommen würde.«
»Was ist passiert?«
»Keine Ahnung. Ich habe nur laute Stimmen gehört, und dann ist er zur Tür hinaus gestürmt.«
»Mit wem hat er sich gestritten?«
»Ich hab’s nicht gesehen, bloß gehört.«
»Haben Sie irgendwann mitbekommen, ob er Drogen genommen hat?«
»Nein.«
»Wussten Sie, dass er sich umgebracht hat?«
Sonja war erstaunt. »Ehrlich?«
»Wir untersuchen seinen Tod. Ich
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