Gehetzte Uhrmacher
geriet in Rage, wenn eines seiner Mädchen sich wehrte und ihm wehtat. Aber nicht Duncan. Er sagte, Wut sei ineffizient. Man müsse das große Ganze sehen. Es gebe stets einen umfassenden Plan, und kleine Rückschläge seien unbedeutend und es nicht wert, seine Energie darauf zu verschwenden. »Zum Beispiel die Zeit. Auf die Jahrhunderte und Jahrtausende kommt es an. Bei den Menschen ist es das Gleiche. Ein einzelnes Leben ist nichts. Die Generationen sind es, die zählen.«
Vincent war zwar im Prinzip damit einverstanden, aber soweit es ihn betraf, war jedes Stelldichein wichtig; er wollte sich kein einziges entgehen lassen. Daher fragte er: »Versuchen wir es noch mal? Bei Joanne?«
»Nicht jetzt«, entgegnete der Mörder. »Sie wird womöglich bewacht. Außerdem würde die Polizei dadurch merken, dass ich sie aus einem bestimmten Grund töten wollte. Es ist aber wichtig, dass man glaubt, es handle sich lediglich um Zufallsopfer. Als Nächstes werden wir...«
Er verstummte und sah in den Rückspiegel.
»Was ist?«
»Cops. Ein Polizeiwagen ist aus einer Seitenstraße gekommen. Er wollte erst in die andere Richtung abbiegen, aber dann ist er hinter uns hergefahren.«
Vincent schaute über die Schulter. Ungefähr einen Block hinter ihnen fuhr ein weißer Wagen mit Signalleuchten auf dem Dach. Er schien deutlich zu beschleunigen.
»Ich glaube, er verfolgt uns.«
Duncan bog schnell in eine schmale Straße ab und gab Gas. An der nächsten Kreuzung fuhr er nach Süden. »Was siehst du?«
»Ich glaube, wir... Moment. Da ist er. Er verfolgt uns. Eindeutig.«
»Die Straße da vorn – einen Block weiter. Auf der rechten Seite. Kennst du sie? Geht sie durch bis zum West Side Highway?«
»Ja. Die nehmen wir.« Vincent spürte, dass seine Handflächen schwitzten.
Duncan bog ab und raste die Einbahnstraße hinunter, dann nach links in südlicher Richtung auf den Highway.
»Da vor uns – was ist das? Blinkende Lichter?«
»Ja.« Vincent konnte sie deutlich erkennen. Sie kamen auf sie zu. Seine Stimme hob sich. »Was machen wir jetzt?«
»Was auch immer nötig sein wird«, sagte Duncan, drehte ruhig das Lenkrad herum und ließ die völlig unmögliche Kurve ganz mühelos aussehen.
Lincoln Rhyme bemühte sich, die eintönig brummende Stimme des telefonierenden Sellitto auszublenden. Das Gleiche tat er mit dem Neuling, Ron Pulaski, der diverse Anrufe wegen der Gangster aus Baltimore tätigte.
Er blockte alles ab, um sich zu konzentrieren.
Er war sich nicht einmal sicher, worauf. Irgendeine vage Erinnerung machte sich bemerkbar.
Ein Name, ein Vorfall, ein Ort. Er konnte es nicht sagen. Doch er wusste , dass es wichtig war, überaus wichtig. Aber was war es?
Er schloss die Augen und näherte sich dem Gedanken. Aber der entwischte.
Es war nur ein Hauch, ähnlich den gefiederten Samen des Löwenzahns, die er als Junge über die Felder gejagt hatte, im Mittelwesten, außerhalb von Chicago. Er war gerannt und gerannt und gerannt. Lincoln Rhyme hatte es geliebt, zu rennen und nach den Löwenzahn-Gleitschirmen zu greifen oder nach den schwirrenden Samenkörnern, die wie kleine Hubschrauber von den Bäumen herabwirbelten. Er war Libellen gefolgt, Motten und Bienen.
Um sie zu beobachten und mehr über sie zu erfahren. Lincoln Rhyme war mit einer ungeheuren Neugier auf die Welt gekommen, von Anfang an ein Wissenschaftler.
Um zu rennen... atemlos.
Nun rannte auch der Gelähmte und versuchte, eine andere Art von launischem Saatkorn zu fassen zu bekommen. Und obwohl die Verfolgungsjagd nur in seinem Verstand stattfand, war sie nicht weniger anstrengend und intensiv als die Wettläufe seiner Jugend.
Da... da...
Gleich hab ich’s.
Nein, nur fast.
Verdammt.
Nicht grübeln, nicht zwingen. Lass es fließen.
Sein Geist flog über die Erinnerungen hinweg, manchmal nur über Bruchstücke, so wie seine Füße über duftendes Gras und heiße Erde gerannt waren, durch raschelndes Schilf und Kornfelder, unter mächtigen weißen Kumuluswolken, die kilometerhoch in den blauen Himmel ragten.
Tausend Bilder von Mordfällen, Entführungen, Diebstählen, Tatortfotos, Behördenmemos und -berichten, Beweislisten, kunstvollen Anblicken im Okular eines Mikroskops, Berggipfeln und -tälern auf dem Bildschirm eines Gaschromatographen. Wie die vielen Hubschraubersamen und Löwenzahnflieger und Grashüpfer und Grillen und Rotkehlchenfedern.
Okay, gleich... gleich...
Dann öffnete er die Augen.
»Luponte«, flüsterte er.
Und
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