Gehetzte Uhrmacher
erwischt. Ich habe ihn unverblümt nach Dad gefragt. Zuerst wollte er nichts sagen. Mein Anruf hat ihn ziemlich aus der Fassung gebracht, aber am Ende hat er eingeräumt, dass es stimmte. Dad, Knox und noch ein paar andere haben mehr als ein Jahr lang die Hand aufgehalten. Sie haben Ladeninhaber und kleine Firmen abkassiert, Beweise verschwinden lassen und sogar jedem mit Schlägen gedroht, der sich beklagt hat.
Die anderen dachten, Paps würde mit ihnen untergehen, aber dank des Fehlers der Spurensicherung wurde er nicht belangt. ›Der Fisch, der vom Haken gesprungen ist‹, so haben sie ihn genannt.«
Sie wischte sich die Tränen ab und scrollte weiter durch die Computerdateien, darunter auch offizielle Dokumente – aufgrund seiner Tätigkeit für das NYPD hatte Rhyme weiterhin Zugang zu den Archiven. Er fuhr dicht an Amelia heran, sodass er die duftende Seife riechen konnte, die sie benutzte.
»Gegen zwölf Beamte des Sechzehnte-Avenue-Clubs wurde Anklage erhoben. Das IAD wusste von drei weiteren, verfügte aber nicht über ausreichende Beweise. Er war einer dieser drei«, sagte Sachs. »Mein Gott. Der Fisch, der vom Haken gesprungen ist...«
Sie sackte auf ihrem Stuhl zusammen, vergrub die Finger im Haar und kratzte sich. Dann wurde ihr klar, was sie tat, und sie ließ die Hand in den Schoß sinken. An einem der Fingernägel klebte frisches Blut.
»Als das mit Nick passiert ist...«, setzte Sachs an. Sie musste noch einmal tief durchatmen. »Als das passiert ist, konnte ich nur an eines denken: Es gibt nichts Schlimmeres als einen käuflichen Cop. Nichts... Und jetzt finde ich heraus, dass mein Vater einer war.«
»Sachs...« Es frustrierte Rhyme zutiefst, dass er nicht in der Lage war, den Arm zu heben und seine Hand auf ihre Hand zu legen, um den schrecklichen Schmerz vielleicht ein wenig zu lindern. Sein Unvermögen machte ihn rasend.
»Er hat sich bestechen lassen, um Beweise zu vernichten, Rhyme. Du weißt, was das bedeutet. Wie viele Täter sind seinetwegen freigekommen?« Sie wandte sich wieder dem Computer zu. »Wie viele Mörder? Wie viele unschuldige Menschen mussten wegen meines Vaters sterben? Wie viele?«
... Sechzehn
Vincents Hunger kehrte zurück, so stark und heftig wie eine einsetzende Flut, und er konnte nicht aufhören, die Frauen auf der Straße anzustarren.
Seine Phantasien machten ihn nur noch hungriger. Hier kam eine Blonde mit kurzem Haar, die eine Einkaufstüte trug. Vincent stellte sich vor, wie er mit beiden Händen ihren Kopf hielt, während er auf ihr lag.
Und da war eine Brünette mit Wollmütze, das wogende Haar so lang wie das von Sally Anne. Er konnte beinahe spüren, wie sich ihre zitternden Muskeln anfühlten, wenn seine Hand sich in ihr Kreuz drücken würde.
Dort, eine andere Blondine, in einem Kostüm, mit Aktentasche. Er fragte sich, ob sie schreien oder weinen würde. Sie kam ihm wie ein Schreihals vor.
Inzwischen saß Gerald Duncan am Steuer des Heftpflastermobils, fuhr durch eine Gasse und dann wieder auf eine Hauptstraße in Richtung Norden.
»Da kommt nichts mehr.« Der Killer wies auf den Funkscanner, aus dem nur Routinemeldungen und Verkehrsinformationen erklangen. »Die haben die Frequenz gewechselt.«
»Soll ich versuchen, sie zu finden?«
»Sie dürfte verschlüsselt sein. Ich bin überrascht, dass sie es nicht von vornherein gewesen ist.«
Vincent sah noch eine Brünette – oh, die ist aber hübsch – aus einer Starbucks-Filiale kommen. Sie trug Stiefel. Vincent mochte Stiefel.
Wie lange halte ich es noch aus?, überlegte er.
Nicht mehr sehr lange. Vielleicht bis heute Nacht, vielleicht bis morgen. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatte Duncan zu ihm gesagt, er müsse bis zum Start ihres »Projekts« auf seine Stelldicheins verzichten. Vincent war einverstanden gewesen – wieso auch nicht?
Der Uhrmacher hatte gesagt, fünf seiner Opfer würden Frauen sein. Zwei seien bereits mittleren Alters, aber er könne auch sie haben, falls er interessiert sei (es ist hart, aber einer muss es ja tun, hatte der clevere Vincent insgeheim gespöttelt).
Also war er enthaltsam geblieben.
Duncan schüttelte den Kopf. »Ich versuche die ganze Zeit zu begreifen, woher die wissen konnten, dass wir das waren. Hast du eine Idee?«
»Nein«, sagte Vincent.
Duncan war immer noch nicht wütend, was Vincent überraschte. Vincents Stiefvater hatte immer geschrien und getobt, wenn ihn etwas aufregte, zum Beispiel nach dem Vorfall mit Sally Anne. Und auch Vincent
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