Gehirnfluesterer
Anlage, der Welt Sinn zu geben – Informationen in Bedeutung zu übersetzen, aus zufälligen Ereignissen Muster zu
bilden. Wenn man eines dieser Programme gegen das andere ausspielt – indem man Erwartungen widerlegt –, dann bricht das System für einen Moment zusammen. Einen gefährlichen Moment, wenn man mit jemandem wie Khan zu tun hat.
ANBINDUNG
Es war einmal ein König, der besuchte die Gefängnisse seines Landes und hörte aufmerksam zu, wie ein Insasse nach dem anderen
ihn inständig um Entlassung bat, weil er unschuldig sei. Plötzlich sah er ganz still in einer Ecke einen traurigen Häftling
sitzen.
Der König trat auf ihn zu und fragte: »Warum bist du so traurig?«
»Weil ich ein Verbrecher bin«, antwortete der Mann.
»Stimmt das?«, fragte der König.
»Ja, das stimmt«, sagte der Mann.
Der König war beeindruckt von seiner Ehrlichkeit und veranlasste seine Entlassung mit folgender Begründung: »Ich möchte nicht,
dass dieser Verbrecher in der Gesellschaft all dieser anständigen Menschen bleibt. Er könnte schlechten Einfluss auf sie haben.«
»Kein Mensch ist eine Insel«, schrieb der Dichter John Donne, den man – bei allem Respekt vor Kurt Lewin – auch den Vater
der Sozialpsychologie nennen könnte. Seit uralten Zeiten ist unser Verhalten eng verwoben mit dem Verhalten der Menschen um
uns herum. Sie üben auf jeden von uns den größten Einfluss aus.
Gruppen-Ein-Fluss
Wir Menschen können gar nicht anders, als aneinanderzukleben und Gruppen zu bilden. Und nicht nur das: Wir können auch nicht
anders, als die eigene Gruppe anderen Gruppen vorzuziehen, selbst wenn es dafür keine offensichtlichen Gründe gibt. Das hört
sich vielleicht seltsam an, aber es ist wahr. In den Tagen unserer Urahnen war die Mitgliedschaft in einer Gruppe so etwas
wie die erste Lebensversicherung. Und die war bitter nötig. Weswegen wir bis heute unsere Prämien für diese alte Versicherung
zahlen.
Im Jahr 1971 führte der inzwischen verstorbene Henri Tajfel von der University of Bristol ein Experiment durch, mit dem er
präzise das Arrangement demonstrieren konnte, das wir mit der natürlichen Auslese haben. Das Experiment war so erhellend,
dass heute ein wichtiges Paradigma der Sozialpsychologie danach genannt wird: das
Minimal-Group-Paradigma
.
Tajfel tat Folgendes: Zunächst zeigte er einer Gruppe von Oberstufenschülern ein Dia mit einer Ansammlung von Punkten. »Wie
viele Punkte sehen Sie auf der Leinwand?«, fragte er dann jeden einzeln.
Es waren eine Menge Punkte, und die Schüler hatten weniger als eine halbe Sekunde Zeit. Deshalb hatten sie keinen blassen
Dunst. Aber sie gaben eine Schätzung ab. Dann teilte Tajfel die Gruppe völlig willkürlich in zwei Kleingruppen, Minimal Groups,
auf: »Unterschätzer« und »Überschätzer«. Minimal, weil die Einteilung auf der Basis eines belanglosen und nicht relevanten
Unterschieds erfolgte. Group, weil es mehrere Mitglieder gab.
Nachdem diese Einteilung stattgefunden hatte, bat Tajfel jeden Schüler, zwei der anderen Gruppenmitglieder Zählpunkte zuzuteilen,
die angeblich einen Geldwert hatten. Die anderen Schüler blieben anonym, waren nur durch einen Code identifizierbar und außerdem
durch die Etiketten: »Unsere Gruppe« und »Die andere Gruppe«.
Die Frage war, ob die Gruppenzugehörigkeit die Entscheidung beim Geldverteilen beeinflussen würde. Genau das war der Fall,wie Tajfel und seine Kollegen schon vermutet hatten. Es regnete Zählpunkte (oder Geld) für Mitglieder der jeweils eigenen
Gruppe, für Mitglieder der anderen Gruppe tröpfelten die Punkte, wenn es überhaupt welche gab. Und dies, obwohl die Schüler
die anderen Versuchsteilnehmer überhaupt nicht kannten: weder die in der eigenen noch in der anderen Gruppe. Es gab auch keinerlei
Hinweis darauf, dass sie sich je begegnen würden, also nach dem Motto »Kratzt du meinen Rücken, kratz ich deinen« handeln
konnten. Die Belohnung wurde nur auf der Basis einer einzigen Kategorie verteilt: meine Gruppe, deine Gruppe.
Die falschen Linien
Im Alltag ist die Macht der Gruppenmitgliedschaft leicht zu erkennen. Man muss sich nur in einem Fußballstadion umtun. Überraschend
dürfte aber sein, dass die Wirkung des Faktors Gruppenmitgliedschaft weit über die oberflächliche Bevorzugung der »eigenen
Leute« hinausgeht. Sie wirkt sich sogar darauf aus, wie wir die Dinge im wahrsten Sinn des Wortes »sehen«.
Das lässt sich an
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