Gehirntraining - Ueber Die Benutzung Des Kopfes.
Anfallskontrolle verfehlte und nur eine Besserung der Anfallssituation bewirkte. H. M. leidet bis heute an seltenen epileptischen Anfällen.
Brenda Milner, eine engagierte Neuropsychologin, stellte bereits kurz nach der Operation fest, dass für H. M. eine weit größere Katastrophe als die fehlende Anfallskontrolle eingetreten war: Er litt an einer massiven Gedächtnisstörung. Neue Informationen oder Erlebnisse waren ein bis zwei Minuten verfügbar. Danach fehlte jede Erinnerung an das unmittelbar zuvor Erlebte oder neu vermittelte Wissen. H. M. konnte seine Autobiografie von diesem Zeitpunkt an nicht fortschreiben. Aber auch Erinnerungen an die Zeit vor der Operation waren zunächst nicht mehr zugänglich. In den folgenden Monaten erholte sich dieser Bereich des deklarativen Gedächtnisses bis auf die drei Monate vor der Operation, die nie mehr aufrufbar waren. Weitere Untersuchungen zeigten eine unveränderte Intelligenz, weitgehend normale Sprache und ein uneingeschränktes Vermögen, motorische Fähigkeiten auszuführen oder gar neue zu erlernen.
Für die Gedächtnisforscher war dieses tragische Schicksal mit einem Erkenntnissprung verbunden. Es war deutlich geworden, dass der mittlere Schläfenlappen eine bisher ungeahnte Schlüsselrolle bei der Bildung des deklarativen Gedächtnisses spielt. Keine wesentliche Bedeutung hat er
für das Kurzzeitgedächtnis für wenige Minuten und für das prozedurale Gedächtnis, das bei H. M. ja nach wie vor einwandfrei funktionierte. Deutlich wurde auch, dass die Intaktheit einer Seite für die Aufrechterhaltung der Funktion ausreichen kann, da bereits vorher zahlreiche Patienten erfolgreich ohne gravierende Gedächtnisfolgen nur auf einer Seite am Schläfenlappen operiert worden waren. In der Folgezeit wurden von mehr als hundert Wissenschaftlern Untersuchungen an H. M. durchgeführt und in Fachartikeln dokumentiert.
Seitdem konnten, wiederum im Kontext der Epilepsiechirurgie, weitere Erkenntnisse zur Rolle des mittleren Schläfenlappens gewonnen werden, da in diese Strukturen bei manchen Patienten aus diagnostischen Gründen Elektroden eingeführt werden müssen. Es zeigte sich dabei, dass der Hippocampus entscheidend für eine bewusste Erinnerung ist. Der Hippocampus erweist sich somit als eine Art Flaschenhals für jegliche Form der Gedächtnisbildung im Rahmen des biografischen Erlebnisgedächtnisses und des semantischen Wissensgedächtnisses.
Mindestens in den ersten Monaten der Gedächtnisbildung liegt eine noch instabile Form der Gedächtniskonsolidierung vor, sodass der Hippocampus in dieser Zeit für die Aufrechterhaltung bereits gespeicherter Inhalte benötigt wird. Nach einer gewissen Zeit, so vermutet man, scheint das Langzeitgedächtnis den Hippocampus nicht mehr zu benötigen. So hatte H. M. immer noch Zugriff auf seine Erinnerungen an Erlebnisse, die mehr als drei Monate vor der Operation stattfanden, obwohl er keine Hippocampi mehr besaß.
Bei Patienten mit Demenzerkrankungen zeigt sich ebenfalls, dass alte Erinnerungen viel robuster sind als neue. Die Betroffenen können lange zurückliegende Erlebnisse detailreich berichten, während der Urlaub des letzten Jahres völlig in Vergessenheit geraten ist. Im weiter fortgeschrittenen Stadium werden auch enge Angehörige nicht mehr erkannt. Jugendbilder der betreffenden Personen können dagegen zugeordnet werden.
Die explizite, frei abrufbare Erinnerung ist nicht die einzige Form der Speicherung deklarativer Gedächtnisinhalte. »Vertrautheit« ist eine Art Vorstufe des sicheren Wiedererkennens. Diese vage Form der Erinnerung ist nicht auf den Hippocampus angewiesen. Die Erregung einer unmittelbar daneben gelegenen Struktur, des Gyrus parahippocampalis, reicht dagegen aus, um ein Vertrautheitsgefühl zu erzeugen. Die beiden Schläfenlappen haben sich spezialisiert. Ähnlich wie Sprache bei den meisten Menschen in der linken Hirnhälfte organisiert ist, sind sprachbezogene Gedächtnisinhalte besonders auf einen intakten linken Hippocampus angewiesen. Diese Spezialisierung ist nicht so konsequent wie bei der Sprache selbst. Während Sprachfunktionen nach einem linksseitigen Schlaganfall oft unwiderruflich verloren sind, übernimmt bei einem Epilepsiepatienten, dessen linker Hippocampus geschädigt ist, der rechte Hippocampus die entsprechenden Funktionen. Eingriffe an nur einem Hippocampus, wie sie heute im Rahmen der Epilepsiechirurgie in großer Zahl durchgeführt werden, sind daher auch ohne relevante
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