Gehoere ich halt nicht dazu
Naja. Alle nicht. Zumindest nicht direkt am Bahnhof. Was hinter den Ausgangs- oder be s ser Eingangst üren des Bahnhofes ist, kann ich jetzt noch nicht erkennen. Das ist ja noch Teil der Überr a schung. Das kann ich ja gar nicht mit Vorstellung füllen. Sonst wäre ja gleich eine Religion oder so etwas da. Früher dachte ich immer an Wo l ken und Engel. Wirklich. Das hat mich sehr geängstigt. Das schien mir äußerst langweilig und gekünstelt. Unnatürlich irgendwie. Le b los. Naja. Klar.
In meinem Kinderzimmer hing ein Bild mit einem Kind, das mir ziemlich ähnlich sah und gerade über eine abenteuerlich beschädigte Brücke gehen will oder muss. D a runter ist ein reißender Fluss. Und darüber schwebt ein sehr freundlich dreinblickender Engel. Ein Schutzengel. Ich habe das Bild ge r ne vor dem Einschlafen angesehen. Es war zwar nicht so hil f reich wie ein Vater, aber es hat gewirkt. Ich mochte den Engel zumindest lieber als meine Mutter. Solange ich vor dem Ei n schlafen auf das Bild schauen konnte, fühlte ich mich sicher. Viel sicherer als die letzten Jahre. Viel sicherer als jetzt.
Der Engel ist weg und pitpuff69 auch. Angelika, die Reinka r nation von pitpuff 69 ist im Vergleich zu pitpuff 69 uninteressant. Pitpuff 69 und Angelika stehen im etwa selben Verhältnis wie der Schutze n gel zu meiner Mutter.
Angelika hat vom „kleinen Werther“ gesprochen. Ich sei ein „kleiner Werther“. Ich kenne den origin a len jungen Werther von Goethe und den jungen W. von Plenzdorf. Den mit den „neuen Leiden“. Ich musste beides in der Schule lesen. Ich habe wie alle anderen auch den jungen W. bevorzugt. Beide sind gestorben, nachdem sie ihre großen, unerfüllten Lieben geküsst hatten. Werther hat Lotte g e küsst, W. hat Charlie geküsst. Also zwei Charlotten jedenfalls. Ich habe Jolanda gefickt. Aber wah r scheinlich waren die Küsse der beiden W´s mit ihren Charlotten ungleich leidenschaftlicher, errege n der, spannender, befriedigender, geheimnisvoller und schöner als mein solide umgesetzter Allerweltsfick mit Jolanda. Vielleicht hätte ich Angelika küssen sollen. Nur küssen. Beide W´s haben Selbstmord begangen. Das verbi n det mich in Bälde mit i hnen. Bald bin ich also auch ein W. Der alte W. hat Pistolen verwendet, der junge W. ist einem Stromschlag erlegen. Im zweiten Fall war es eher Blödheit als Selbstmord.
Beides erscheint nicht sonderlich attraktiv für meinen Tod. Für das Erschießen bin ich ein zu ordentl i cher Mensch. Ich will einfach keinen Saustall hinterlassen. Stromschlag hingegen ist mir zu unkon k ret. Was ist Strom überhaupt? Wie sieht das aus? Wie fühlt sich das an? Nein. Das kommt nicht in Frage.
Ich greife zu einer neuen Frigo-Packung und mache mir erst mal einen Kaffee. Ich zappe durch das Fernsehpr o gramm. Ich sehe eine Werbung für Werther’s Echte. Ich schalte aus.
Ich denke.
Ach ja. Es fehlt noch was ganz Wichtiges. Ein Abschiedsbrief. Aber für wen soll ich denn einen A b schiedsbrief schreiben? Naja. Egal. Hauptsache es gibt einen. Das gehört einfach dazu. Ich nehme einen Block von Wien Energie zur Hand. Und einen Kugelschreiber von Frigo. Und schreibe drauf los. Mit der Hand!
Abschiedsbrief
Sehr geehrtes Leben, lieber le i der-doch-nicht-Freund,
wir haben schon einige Jahrzehnte gemeinsam ve r bracht. Ich denke jetzt ist es an der Zeit getrennte Wege zu gehen. Du hattest ohnehin immer mehr für die Anderen übrig als für mich. Ja okay. Ich weiß. Viele Me n schen hätten es noch viel schlechter erwischt als ich. Denen in Afrika zum Be i spiel. Das sagen alle. Das sagst auch du immer wieder. Und soll ich dir was sagen? Mir ist das schei ß egal.
Mir geht es k einen Deut besser, nur weil es a nderen noch schlechter geht. Ich weiß, es gibt Kriege, Katastrophen, schw e re Krankheiten, schlechte TV-Shows und was weiß ich was für Tragödien noch. Auf der ganzen Welt. Seit jeher und für immer. Aber muss ich deshalb glüc k lich sein, weil es mich scheinbar nicht so schlimm erwischt hat? Ich hab viele Talente mitb e kommen. Ich hab nichts daraus gemacht. Aber was wäre gewesen, wenn ich was daraus gemacht hätte? Wah r scheinlich hätte ich mich noch viel eher von dir getrennt. So wie andere , die etwas aus sich gemacht haben auch. Kurt Cobain. Kaiser Nero. Adalbert Stifter. Vincent van Gogh. Jack London. Si g mund Freud. Stefan Zweig. Marilyn Monroe. Und ich. In bester Gesel l schaft.
Ich weiß gar nicht, was so ein Abschied s brief bewirken soll.
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