Gehoere ich halt nicht dazu
Verträum mich in einem Traum, in dem ich irgendwas Großes bin. Will mir eine Geschichte ausdenken. Aber Angel i ka holt mich zurück.
„Ich rette jeden Tag Leben“, sagt sie.
„Das ist dein Job“, erkläre ich ungerührt.
„Jemand, der sich umbringen will, ist mein natürlicher Feind“, sagt Angelika.
„Wir müssen nicht Freunde sein“, meine ich. Sie ist mir viel zu pathetisch.
„Aber“, fängt Angelika an.
„Wir müssen auch nicht hier sein“, sag ich.
„Bleib“, sagt Angelika. Wir sehen uns an. Ich bleibe und schweige.
„Es gibt keine Zufälle“, sagt Angelika. Sie nimmt meine Gel d tasche aus meiner Hosentasche. Ich bin fasziniert und ang e ekelt zugleich. Mach mit mir alles und lass mich in Ruhe, denkt mein kleines Hirn. Ich will, dass sie mich berührt, dass sie verschwindet. Ich brauche doch ni e manden, oder? Mein Hirn versagt und gibt keine An t wort.
„Ah“, sagt Angelika.
„Ich kenne dich noch aus der Schule. Erinnerst du dich? Ang e lika Hirsch heiße ich. Beim Völkerball wurdest du immer ganz am Schluss ausgewählt. Noch nach den Mädchen. Weil du den Ball nicht fangen konntest. Und weil du auch nicht gut schießen konntest. Ach. Das w a ren Zeiten. Früher. Das mit deiner Mutter tut mir übr i gens leid. Sie liegt doch im Stock 14 bei uns, oder?“
Jetzt ist mir alles zu viel. Ich würde am liebsten tot u m fallen. Warum habe ich diesen blöden Koma-Saufen-Satz g e sagt? Warum nehme ich noc h so viel von dieser Welt wahr?
Ich lasse mich von den Reizen Angelikas nicht mehr verfü h ren, bestelle drei Mojitos, trinke sie ohne ein Wort zu sagen aus. Einen nach dem a nderen. Online und echte Wirklichkeit sind zwei Welten. Die Personen in der einen haben oft nicht viel mit der anderen zu tun. Obwohl es die gleichen sind. Oder dieselben. Und tot ist wahrscheinlich wieder eine and e re Dimension, die weder mit online, noch mit der „Wirklic h keit“ was zu tun hat. Der dritte Weg. Ich trinke weiter. Was Angelika tut, ist mir egal. Ich will sie nicht mehr reden hören und stelle mich taub. Ich höre nur mehr die Musik. Rhythmus. Tro m meln. Und Texte über die Liebe.
„Die Dame hat mein Geld, sie soll bezahlen“, sage ich dem Barkeeper.
Angelika will mir die Geldtasche zurückgeben, aber ich sage ihr, dass ich die nicht mehr brauche. Sie ist perplex.
„Bleib“, sagt Angelika.
Diesmal folge ich nicht. Ich nehme wortlos meinen Ma n tel, ich will es bis nach Hause schaffen, nicht in einem Lokal z u sammenkippen.
„Mach ` s gut und lass dich nicht abschießen“, höre ich sie noch sagen. Nein. Abschießen lasse ich mich nicht mehr.
Die Luft draußen ist kalt. Wenigstens regnet es nicht mehr. Der Wind ist gut für mein Hirn. Es tut mir leid, dass ich meinen Online-Freund verloren habe. Was habe ich davon? Eine alte Schulkollegin wi e der gefunden zu haben, die ich nicht vermisst hatte? Ein schlechter Tausch.
Ich überlege, was ich pitpuff69 alles erzählt habe und ob sie geahnt hat, wer ich bin. Ich komme nicht dahinter. Ich setze einen Schritt vor den anderen. Ich bin nicht wehmütig. Das Leben ist dauernd Abschied nehmen. Von der Schlange, von meiner Mutter, von pitpuff 69 , von mir. Ich hoffe, dass Jolanda nicht mehr vor meiner Türe steht. Und ich habe Glück: Niemand bekommt mit, wie ich hei m komme. Wie ich zu Bett gehe, ohne Zähne zu putzen. Das ist nicht mehr notwendig, wenn man nur mehr einen Tag zu leben hat. Und niemand merkt, wie ich tief und betrunken schlafe.
Mein letzter Tag, Montag
Gott hat die Welt in sieben Tagen erschaffen, heißt es. Die sieben Tage, die ich mir noch zu leben gegeben habe, gehen heute zu Ende. Spätestens um 24.00 Uhr bin ich tot. Das habe ich mir fest vo r genommen.
Als ich aufwache , erwarte ich einen ganz besonderen Tag. Schließlich soll es mein letzter Tag hier auf Erden sein. Den letzten Sonnenaufgang habe ich verpasst. Es ist schon etwa 10 Uhr. Ein kurzer letzter Tag also. Ich habe schlecht geschl a fen.
Ich habe mich eigentlich noch kaum mit dem „danach“ b e fasst, fällt mir plötzlich ein. Ich habe mich in meinem gesamten Leben nicht mal ansatzweise für irgendeine Religion en t schieden. Aber auch nicht für keine Religion. Ich werde mich einfach überraschen lassen, was passiert. Jetzt tauchen Bilder auf von einem großen Ankommen. Es sieht aus wie am Bahnhof in Barcelona, der wiederum au s sieht wie ein Bahnhof aus alten Filmen, die in Spanien oder Italien spielen. Dort warten schon alle anderen Toten.
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