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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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sagt: »Du solltest dich auch für Filme interessieren.«
    Thomas Frantz ist ein Mann, der mit der Zeit geht, der sich ein IT-Wissen angeeignet hat, der Anteil hat am blühenden elektronischen Leben um ihn herum, der aufgehoben ist im Netz, er kennt sich aus; und doch ist überall Leere, Losigkeit, an einem Morgen, Nachmittag wie diesem.
    Woran das liegt?
    Psychogeographie. Erforschung der genauen Gesetze und exakten Wirkungen des geographischen Milieus, welches direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt. Das ist ja heute kaum mehr möglich. Da müsste man schon die halbe Welt erforschen, in jede Windung, fein verästelte Abzweigung, Serverbank, Siliziumsynapse hineinschauen, so weit versponnen, wie er ist, dieser Thomas Frantz mit seiner Losigkeit.
    Das Leben funktioniert, solange man Lebensmittel hat. Einen Kühlschrank und Wein. Dann kann man sich aufregen über die Welt und sein Dasein darin schönen. Ein Eisfach und Wodka. Thomas Frantz weiß das. Er macht sich nichts vor. Er sei gewiss nicht normal, sagt er sich, hält das aber für normal. Berauschten sich nicht alle an irgendwas, das Leben zu ertragen? Arganöl und Roadster. Babykacke und Berlin-Marathon. Waren wir nicht alle Teil derselben großen Augenwischerei? Fußball und Malle. Serrano-Carpaccio und Roséchampagner. So geht das.
    Zorpia sagt: »Du solltest dich auch für Musik interessieren.«
    Eine Disziplin braucht der Mensch, Frantz, eine Disziplin und eine Ordnung. Steh auf, Frantz, tue endlich etwas und schöpfe Hoffnung für den Tag!
    Thomas Frantz stand auf. Er rieb sich die Augen, einen Moment lang war ihm schwindelig, er schüttelte sich, atmete tief. Er wollte Ordnung schaffen. Hosen, Socken, Hemd in den Wäschekorb packen. Abwaschen, Staub wischen, immerhin äußerlich, sozusagen, eine Ordnung schaffen, denn die Summe der äußerlichen Ordnungshandlungen manifestiert sich nach innen, in den Geist hinein, das wusste Thomas Frantz, und er wollte wenigstens die schmutzigen Socken von der Seele haben.
    Nach dieser Reinigung zog Thomas Frantz ein rotes Hemd aus seinem Schrank hervor, streifte den schwarzweißen Mantel über und setzte die dazu passende schwarzweiße Schiebermütze auf. Kurz vor drei hatte er den Termin mit dem Bauherrn aus London. Davor konnte er noch spazieren gehen oder einen Kaffee trinken. Er streifte die weichen hellen Lederhandschuhe über, die er liebte, eine letzte duftende Eleganz, bedächtig und fast zärtlich; sie waren das einzig äußerliche Zeichen, ein ärmliches Dandytum, das ihn in seiner selbstgewählten Losigkeit noch mit der Vorstellung eines sozialen Stands und so etwas wie Sicherheit verband. Er zog die Schiebermütze über den Locken ein wenig ins Gesicht, war einigermaßen zufrieden mit seinem Spiegelbild, stapfte die Treppen hinunter und befand sich auf der Schönhauser Allee.

3. Wie Thomas Frantz auf der Schönhauser Allee wurde, was er sein könnte
    Ich folgte ihm.
    Ich ging um diese oder eine andere Ecke, als ich ihn sah und ihm folgte, sofort, aus einer Laune heraus, einem Drang, als habe mich ein Schlag wie ein Nasenbeinbruch in seine Laufrichtung geschoben. Der Mann war ein Hüne, eine Erscheinung.
    Er kam mir durchaus bekannt vor. Nein: Es ist, als habe ich ihn schon immer gekannt. Ich kenne ihn wie einen Bruder, mit dem ich nicht aufgewachsen bin, und obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte, war er plötzlich ein Teil von mir, als wüsste ich, als ahnte auch er um mich wie ich um ihn. Ich hatte ihn niemals zuvor gesehen, aber irgendwie war mir dieses große, leicht verknautschte, vielleicht auch nur an diesem Tag, in dieser Stunde etwas verbeult wirkende, rötlich schimmernde Gesicht seltsam vertraut. Sein schwarzweißer Fischgrätmantel ließ ihn umso massiger wirken. Der Mantel fiel wie aus einer Zeit heraus, und die ebenso verknautschte schwarzweiße Fischgrätmütze, ich kannte diesen Mann so gut oder so wenig wie mich selbst, und wer kann am Ende schon behaupten, er habe sich gekannt?
    Ich folgte ihm, wie ich gedankenverloren meinem Schatten folgen würde oder dem nackten Fuß einer jungen Frau, auf dem tätowiert steht: Schritt für Schritt. Ich folgte ihm, wie er von der Alten Schönhauser Straße über die Münzstraße in die Neue Schönhauser Straße einbog. Die Metrotram klingelte. Ich versuchte Schritt zu halten, es war kalt, die Türen schoben sich von Druckluft gestoßen zu, Kautschuk knirschte, eine junge Frau hastete an die Tür, sie klopfte an die Scheibe, ein wenig

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