Gehwegschäden
Richtung des Cafés St. Oberholz. Vor der Scheibe des Cafés hatte sich eine Dohle auf einem orangefarbenen Plastikhochsessel auf weißen Stelzen niedergelassen, als sei dieser eigens für sie hergestellt worden und nicht für den Referee eines Tennisspiels.
Der Mann rauchte, er ging weiter. Ich habe ihn irgendwo auf der Schönhauser Allee, in der ich wohne, aus den Augen verloren. Aber ich bin mir sicher, dass ich ihn wieder treffen werde. Man sieht sich immer zweimal im Leben.
Ich habe mir lange den Kopf zerbrochen. An wen, verdammt, erinnerte er mich bloß? Wer war dieser Mann? Oder vielmehr: Wer wäre er? Wäre er einer von uns? Ein Gelegenheitsschreiber. Ein Werber auf Honorarbasis, selbstständiger Fahrradkurier, Drehbuchautor für Computerspiele, freier Zeilenschinder, kreative Ich-AG, eine Radioschnauze, PR-Schranze, ein Copyrighter, Blogger, Projektarbeiter, frei flottierender Architekt, Anwalt, Baubiologe, Webdesigner, Aushilfs-Programmassistent im Verkehrsfunk, promovierter stellvertretender Hausmeister oder skrupelloser Lohndichter, einer, der ein Händler der Slogans und Schicksale ist und am Ende doch nur sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen sich wünscht, aber dieses Schicksal erweist sich als stärker oder er sich als zu schwach?
Lasse reinböng. Fühle die Frische des Salmiaks in diesem Hustenbonbon oder du bist zu schwach. Was unterscheidet seine Zeit von einer anderen Zeit, die uns zu dem macht, was wir nicht sein wollen? Geiz ist geil. Werde reicher als reich. Bild dir deine Meinung. Ich bin doch nicht blöd, Mann – unterm Strich zähl ich.
Nehmen wir an, er wäre ein Getriebener wie Gestoßener zugleich, und daher segne ihn das Schicksal einmal und treibe ein andermal einen schäbigen Spaß mit diesem Auswurf seiner Zeit, aus dem die liebloseste aller Mütter einen formte, der er in einer anderen lieblosen Zeit nicht gewesen wäre. Sehen wir ihn uns an, diesen Thomas Frantz.
3 … 2 … 1 … meins!
Dann müsste ich eine folgenschwere Entscheidung treffen. Denn Entschlossenheit ist das unumstößliche Maß unserer Zeit, und Entschlossenheit ist exakt, was Thomas Frantz fehlt, und daher entscheide ich an seiner Statt: Du hast kurz vor drei einen Termin mit dem Bauherrn aus London.
Gehwegschäden
Der Begriff Gehwegschäden ist eine genaue Bezeichnung. Der verwandte und ebenso häufig in Berliner Straßen zu findende Begriff der Straßenschäden hingegen kann leicht in die Irre führen: Der Begriff Straße unterteilt sich in die eigenständigen Begriffe Fahrbahn und Gehweg. So kommt es vor, dass nur die Fahrbahn Schäden aufweist, der Geh- oder Radweg aber nicht. Daher sind seit geraumer Zeit auch die Hinweisschilder Radwegschäden und Geh- und Radwegschäden in Gebrauch.
Die Schilder mit dem Hinweis Gehwegschäden oder Geh- und Radwegschäden werden angebracht von den Tiefbau-, Straßen- und Grünflächenämtern der Bezirke durch Auftragsvergabe an eine externe Firma oder durch die Mitarbeiter der Behörde.
Die Schilder haben den Charakter einer Information an den Bürger: Hier ist etwas nicht in Ordnung. Sie haben ebenso den Charakter einer Absichtserklärung: Wir wissen, dass hier etwas nicht in Ordnung ist, und wir haben uns als Stadt verpflichtet, die Ordnung in unseren Quartieren wiederherzustellen. Wir kommen nur derzeit nicht dazu. Das Schild ist somit eine Entschuldigung: Lieber Bürger, wir wollen hier etwas verändern, wir geben unser Bestes, aber wir können nicht.
Häufig kommt es bedingt durch Witterung und Baumwurzelwuchs zu Verschiebungen der Granitplatten. Es entstehen mehr oder minder hohe Kanten. Diese Kanten müssen angerampt werden, heißt es in der Fachsprache, etwa für Rollstuhlfahrer. »Anrampen ja, aber schick machen können wir die Gehwege nicht mehr«, sagt ein Mitarbeiter der Behörde.
HOFFNUNG
4. Das Haus der deutschen Geschichte gehört jetzt anderen. Thomas Frantz trifft einen Bauherrn, der in London wohnt und einen Brontosaurus fährt
Wenn das Haus eine Seele hätte, welche Farbe hätte sie? Weiß? Wie eine Chuppa? Braun wie die Hemden der HJ? Rot wie die sowjetische Flagge oder schwarz wie der stinkende Teer, auf dem Thomas Frantz jetzt steht? Er hat keine Ahnung. Aber er ist merkwürdig berührt, als hätte ihn ein bescheuerter Eishauch der Geschichte gestreift. Er schlägt den Kragen seines Mantels auf. Er steht in diesem nackten, schon fast völlig entkernten Gebäude. Es bebt und ächzt und stöhnt vom Bohren, Schaben der Bauarbeiter, sie
Weitere Kostenlose Bücher