Gehwegschäden
zappt durch. Sändi steht auf, hopserläuft vergnügt im kurzen Hemdchen in die Wohnzimmerküche, setzt sich an den Tisch, pult an ihrer großen Zehe und spielt hernach Trompete.
Dieses Pfeifen, Summen, Krachen, Trompeten, Lachen, Poltern im Haus, nur Thomas Frantz hört nichts da oben in seiner Bude, Seitenflügel Dachgeschoss rechts, fast nicht einmal das Stöhnen nebenan hat er gehört, er nahm es erst ein wenig zeitverzögert wahr, als baute er dieses stimmliche Geräusch in seinen Wachtraum ein, aber sag mal: Ficken die da wirklich am helllichten Tag bei offenem Fenster?
Thomas Frantz liegt auf seinem Bett. Er fühlt sich schwer, er ist müde und faul. Das ist nicht ganz gewöhnlich. Thomas Frantz ist ein Mann, der sich sonst sehen lassen kann. Der sich bewegt unter den Menschen wie ein Fisch im Wasser. Kein Hai, kein Hering, irgendwas dazwischen. Kein kleiner Fisch in einem großen Becken. Kein großer Fisch im kleinen Becken. Irgendwas dazwischen. Vielleicht wäre er ein dicker roter Zackenbarsch mit scharfen Zähnen und sanften, weichen Lippen. Tatsächlich hat er etwas von einem schottischen Whiskytrinker, dieser schwere, starke Mann mit seinen rötlich blonden Locken und leicht anfälliger Haut, seiner Fröhlichkeit und eingemachten Melancholie, seinem Lachen, Starrsinn, zarten Gekränktheit. Er hat studiert, Geschichte, Spanisch und das Theater, er hat gelernt im Leben. Er war Kellner und Staplerfahrer. Leichenwäscher und Fahrradkurier. Er war Stringer fürs britische Fernsehen, ITN Channel 4 News, dreimal vor der Kamera mit seinen langen Zotteln seinerzeit, man wollte in London halt auch mal Exotisches aus Krautland sehen. Er war Reporter gewesen, er war die Urlaubsvertretung vom Nachrichtenmagazin für Dumme. Jahrelang hat er da geschrieben, man rief ihn an, wenn’s brannte. Er war Reisender und Beobachter. Madrid, Los Angeles. Er war frei gewesen. Karibik, Seychellen. Frei von Zwängen und frei vom Angestelltsein, frei von Konferenzen und frei von Intrigen, ein König unter den Menschen. Er war im Kosovo wie in Afghanistan, er ist ein Adoptivkind und dennoch auf dem Internat gewesen. Secondhand nennt er das manchmal und erklärt damit seine Vorliebe für Flohmärkte und Second Life. Er hat nichts Gespartes aus dieser Zeit. Wenn ihm mehr Geld blieb, als er durchbrachte, gab er es weg. Er kaufte fünfzig Weihnachtsgeschenke für ein Kinderheim. So was. Er lud Männer, die auf der Straße lebten, in ein Restaurant zum Essen ein. Schenkte es einer Bettlerin und sagte: Machen Sie mal Urlaub. So was. Er hat gelebt und vom Leben schon eine Zeichnung, eine Narbe auf der Stirn, dunkle Flecken liegen auf seiner Seele (und die ersten auf der Lunge?).
Jetzt holt ihn diese Freiheit ein. Frantz ist zerrissen, wie er da auf seinem Bett liegt, voll von Selbstzweifeln und Agonie, in seinem Bücherregal stapeln sich Walt Disneys Lustige Taschenbücher, Entenedition, neben Lucky Luke und Gaston Lagaffe, wechselweise schmerzen ihn Bauch, Herz und Kopf, diesen robusten Spross einer ihm nicht bekannten Mutter, manchmal auch die Bronchien, in der Mitte seine Lieblingsromane, oben die Judaika, Reiseführer, Bildbände.
Zorpia sagt: »Auch Tina interessiert sich für Literatur.«
Zorpia sagt: »Auch Kevin interessiert sich für Literatur.«
Thomas Frantz ist Mitglied von communities. Er gruschelt, hat Freunde bei Facebook, Xing und Zorpia zum Beispiel, an manchen Tagen quillt sein virtueller Briefkasten über, es kommen ständig neue Freunde hinzu. Regelmäßig schreibt er etwas. Sein Blick fällt auf ein Kinderspielzeug in diesem Regal. Es ist ein Mann aus Blech, der auf einem blauen Motorrad sitzt. Der Mann trägt einen Halbschalenhelm und Fliegerbrille. Er ist vornübergebeugt, wie um den Luftwiderstand zu verringern. Es ist ein altes Motorrad, vielleicht aus den Fünfzigern, mit einer dicken Lampe und Nummernschild quer auf dem vorderen Schutzblech stehend. Alles daran ist aus Blech, sogar die Reifen. In der Mitte sind Stützräder angebracht, darunter eine Mechanik. Man konnte es einmal aufziehen und fahren lassen. Frantz hat das Spielzeug auf einem Flohmarkt entdeckt. Eine Erinnerung stieg in ihm auf, die Erinnerung an sein erstes, sein liebstes Kinderspielzeug, seinen Katerlinger. Die Mechanik war längst kaputt, aber Frantz erkannte den Motorradfahrer wieder. Er hatte ihn damals Katerlinger genannt, niemand wusste warum, sein Blick fällt auf den Katerlinger, und da durchfährt ihn: Nichts ist Halt. Nichts mehr
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