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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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übrig. Keine Kindheitserinnerung bleibt, wenn sie nicht wieder an ein Kind weitergegeben wird. Das Spielzeug im Regal, das Fotoalbum, von der Neumutter liebevoll geführt, ist nicht Freude, sondern Schmerz, weil das Leben da drinnen nur noch in ihm selbst existiert. Als sei es dort gefangen und für jeden anderen vollkommen ohne Belang; Losigkeit.
    Zorpia sagt: »Auch Svetlana interessiert sich für Literatur.«
    Zorpia sagt: »Auch Markus interessiert sich für Literatur.«
    Was ist die Quintessenz seines bisherigen Lebens? Haltlosigkeit. Wann das begann? Haltlosigkeit und eine gewisse Konsequenz. Wahrscheinlich schon in seiner Kinderheit, wie er das nennt. Es hat nie aufgehört. Eine gewisse Konsequenz gepaart mit dem Talent, durchzukommen. Er war die Figur des Ned Rise in T. C. Boyles Wassermusik . Der Simplicissimus in Grimmelshausens Dreißigjährigem Krieg. Ismael, Melvilles einzig Überlebender der Katastrophe. Durchkommen, überleben, um jeden Preis, so hart sind Heimkinder, immer nur unterbrochen von Phasen relativen Halts. Die Adoptiveltern, Phase eins. Durchkommen, gemischt mit Brillieren, Rekordschulwechsler. Phase zwei. Das waren neue Freunde in der neuen Schule. Das war ein Verein, der Sport, der ihm Halt gab. Brillieren gefolgt von Selbstzerstörung. Phase drei. Das waren die Jahre des Internats, und auch in dieser Zeit nur ein kurzes Jahr des relativen Halts, das waren wieder neue Freunde und eine neue Freundin nach dem Internat, und dann, Phase vier, in den Jahren im Ausland, wieder Haltlosigkeit, nur unterbrochen von Chaos. Selbstzerstörung und Wiederauferstehung. Fegefeuer und Selbstreinigung. Losigkeit. Das ist das Band, das sein Leben durchzieht. Dieser Zustand führt zu Angst. Führt zu Verzweiflung, zu Exzess. Nur in diesem Zustand kann er die Losigkeit überwinden, sie austricksen, ihr ein Schnippchen schlagen. Wiederauferstehung und Hoch. Zorpia sagt: »Auch Roger interessiert sich für Literatur.« Rausch ist Medizin. Hoch und Fall. Folge der Losigkeit. Der Zustand jenseits des Normalstands heißt Freiheit. Heißt Selbstsicherheit. Heißt träumen. Heißt: magst ruhig sein. Wann hat das angefangen?
    Zorpia sagt: »Auch Jimmy interessiert sich für Literatur.«
    Zorpia sagt: »Auch Olga interessiert sich für Literatur.«
    Zorpia sagt: »Auch Bernd interessiert sich für Literatur.«
    Zorpia sagt: »Auch Ignieseka interessiert sich für Literatur.«
    Zorpia sagt: »Auch Margit interessiert sich für Literatur.«
    Er kann sich an Bilder erinnern, Schemen, kurze, warme Momente wie Wellen, deren Abebben umso kälter ist, ein Nebel aus Assoziationen, aus Geräuschen und Farben, und als er da so liegt, auf seinem Bett, den Blick auf ein Stück Schrank, eine Pflanze, ein Blatt im Raum geheftet, spürt er in Wellen die Losigkeit in sich aufsteigen, ein Meer, in dem er zu schwimmen versucht; er liegt auf dem Bett und treibt vor sich hin, oder hinter sich her, wie man’s nimmt. Es wohnt ihm eine alte Männlichkeit inne, die unterlegt ist von Bildern wie aus einem Schwarzweißwestern oder der Melodie eines Johnny-Cash-Songs. Der Lächerlichkeit dieser Bilder kann er sich nicht verschließen. Gleichzeitig verleihen sie ihm eine Kraft und Wärme, die ihn im höchsten Sinne erfüllen, und er leidet darunter, dass die Stimmen seiner Kinderheit mit seiner Wirklichkeit nicht in Deckungsgleichheit gebracht werden können. Ist das nicht kalter Kaffee in einem albernen Blechnapf am Lagerfeuer eines Filmstudios? Eine Sozialisation, die vor einem Röhrengerät der sechziger Jahre stattgefunden hatte und nicht durch natürliche Reibung an einem real existierenden Vater erlernt worden war?
    Zorpia sagt: »Auch Dennis interessiert sich für Literatur.«
    Wie sich ein Kind auf einer Schaukel gefühlt stundenlang in den Rausch schwingen kann, so lässt er sich fallen, hineinsinken in das Wachdämmern. Ob Boxen, ob Bier, das Rauschhafte daran ist nicht zu verkennen. So ist das. Warum findet er keinen Halt? Vielleicht, weil da nichts ist? Weil ihm da niemand sagt, wer er ist und was er tun soll? Weil da nichts ist, das ihn an die Hand nimmt und ihm sagt: Mach dir heut ein Gulasch. Nein, nicht das blaue, nimm das rote Hemd. Und vergiss nicht den Termin mit dem Bauherrn aus London um drei. Weil er sich doch dauernd selbst entscheiden, weil er sich doch immer selbst an die Hand nehmen muss; statt einfach eine Münze zu werfen, Kopf oder Zahl?
    Zorpia sagt: »Du solltest dich auch für Autos interessieren.«
    Zorpia

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