Gehwegschäden
so würdelos. Daran kann er sich erinnern, einzig für die Erinnerung hat er es getan. Das ist so würdelos, wird er klagen, und er wird sich beleidigt schelten dafür. Er braucht eine Tragik zum Leben wie die Luft. Er wird aus der Ohnmacht erwachen und sich erinnern und in die Erinnerung hinein hassen. Aus Hass wird Angst. Er wird sich fürchten vor einer Krankheit. Schlaganfall. Herzinfarkt. Multiples Organversagen am besten. Tod und Verderben steigen in ihm auf. Er wird aufstehen und im Netz suchen, suchen nach den Symptomen von Krankheit. Er hustet. Bekommt Herzrasen. Hitzewallungen. Ganz elend ist ihm, er flucht, gelobt Besserung und leistet Abbitte.
Er wäscht ab, fegt, ordnet, wischt, bügelt. Das kleine Purgatorium. Die Dauer dieser Prozedur verhält sich direkt reziprok zur Summe der angefallenen Sünden. Anzahl alkoholischer Getränke plus Zeit, die er verschwendet hat. Das hat er bereits im Moment des Erwachens penibel errechnet. Nach Reinigung der Umgebung erfolgt die ausführliche Körperreinigung, und erst wenn auch diese Prozedur bis zur Salbung abgeschlossen ist, frühstückt er. Kiwi, Melone, Banane, Orange, wenn er hat. Ein Ei, wenn er mag. Kaffee mit viel Milch. Weißdorn, Magnesium, Vitamin C und als Lebertonikum Artischockenextrakt und Mariendistel-Schutzdragee. Er geht joggen und Fahrrad fahren, und dann ist ihm wieder wohl, als hätte er den Segen einer Beichte empfangen, obwohl er doch gar nicht katholisch ist, dieser Frantz, der alte Lutherzipfel, wäre aber schon immer lieber katholisch gewesen, gibt doch wirklich nichts Schlimmeres als diese blutleeren Calvinisten, das ganze vertrocknete, bigotte Pack.
Es klopfte. Frantz öffnete die Tür, und Elvira, die Gräte, stand vor ihm. Sie war ganz aufgeregt. Sie eröffnete Thomas Frantz, sie wolle ein Buch schreiben. Nervös zupfte sie mit der rechten Hand in ihrem wasserstoffblond gefärbten Haar herum. Darüber, sagte Elvira, wie verlogen die Welt der Models ist. Elvira drehte mit dem Finger eine Locke und sah ihren Nachbarn fragend an.
Thomas Frantz überlegte. Warum sollte man die Dummen davor bewahren, eine Dummheit zu begehen? Warum sollten dumme Menschen nicht dumme Dinge tun, wo es doch in ihrer Natur liegt?
Elvira begann zu plappern, und Frantz überlegte weiter.
Es sind doch, sagte er sich, ohnehin die dummen Mütter und dummen Mädchen, die auf diese dumme Modelwelt hereinfallen. Würde sie ein solches Buch abschrecken? Würden sie es lesen, die Existenz eines solchen Buches überhaupt wahrnehmen? Wozu also? Ein weiteres Buch eines weiteren enttäuschten, mageren und farblosen Mädchens?
Frantz schwieg.
Elvira plapperte.
»Das ist eine ziemlich gute Idee«, sagte er nach einer Weile, allein, um ihren Redefluss zu unterbrechen.
Elvira plapperte unaufhörlich.
»Das gibt es bestimmt noch nicht auf dem Markt«, sagte Frantz, vielleicht, um sie ein zweites Mal zum Einlenken zu bringen, vielleicht, um sie erst recht zu befeuern.
Elvira war wie von Sinnen.
Er würde ihr vielleicht einige Kontakte zu Verlagen herstellen können, versprach Thomas Frantz nach einer Weile. Sie müsse einmal ihre Gedanken sortieren und ein Exposé formulieren, sagte er.
Elvira notierte sich das.
Schließlich, erklärte er ihr, müsse sie mehrere Probekapitel schreiben und recherchieren, was zu diesem Thema schon erschienen ist.
»Schon erschienen?«
Elvira sah ihn ungläubig an.
Ja, es sei doch immerhin möglich, dass irgendwo auf der Welt und vielleicht sogar in Deutschland bereits ein anderes Ex-Model auf die Idee gekommen ist, ein Buch darüber zu schreiben, wie verlogen die Welt der Models und der Mode ist, um damit Geld zu verdienen, und dass es ein Verlag womöglich für wert erachtet hätte, dieses Buch zu drucken, weil er damit Geld verdienen konnte.
Elvira sah ihn entgeistert an.
In diesem Anschreiben an die Verlage müsse sie klarstellen, wie sie ihr Buch von jenen anderer Ex-Models abzugrenzen gedenke.
Elvira nickte heftig, lächelte wieder über die gesamte Breite ihres großflächigen Gesichtes und hüpfte vergnügt die Treppe hinab. Thomas folgte ihr nach einer Weile, um unten nach der Post zu sehen.
Er mochte die Welt nicht mehr, in der er sich bewegte. Die Medien fand er arrogant. Das hierarchische System war zum Kotzen. Er hasste Debatten. Talkshows gingen ihm auf die Nerven. Er konnte die Werbung nicht leiden. Man wird zugeschissen. Man kann sich nicht wehren. Sein Briefkasten quoll über. Und wenn er noch so voll war,
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