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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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drückte man ihm die tägliche Werbung mit Gewalt hinein. Bitte keine Werbung, stand an anderen Briefkästen. Sie platzten aus den Nähten. Er wusste, es sind arme Schweine, die Werbung in Briefkästen stopfen. Oft Asylantenkinder. Sollen sie das Zeug doch in den Gulli schmeißen. Er müsste sich ja ständig Augen und Ohren zuhalten, um nicht in jedem Moment seines Daseins angegriffen zu werden.
    Er ging hinauf, keuchte, schloss die Tür und legte sich noch mal aufs Sofa.
    Die Dinge wurden niemals besser, sondern immer nur schlechter. Bestenfalls, wusste Frantz, blieben sie eine Weile gleich. Aber das konnte er niemandem sagen. Negative Gedanken schadeten. Sie waren die Wurzel allen Übels. Wer negativ dachte, grenzte sich aus. Von Menschen, die negative Gedanken formulierten, trennte man sich. Es war wie ein Virus, den alle fürchteten, eine Pest des dritten Millenniums. Selbst Marie-France war davon angesteckt. Man durfte nur positiv denken. Ich denke, also bin ich. Jung, gesund, erfolgreich. Allein das Wort, dachte Thomas Frantz, als er wieder aufstand.
    Erfolgreich.
    Er hatte es einmal aus dem Mund seines alten Büroleiters gehört. Der Mann hatte dieses Wort anlässlich einer Weihnachtsfeier des Verlags gesagt, und so hatte auch das Wort etwas Feierliches bekommen, Frantzens Büroleiter hatte es mehrmals in seiner ganzen Feierlichkeit ausgesprochen und auch sonst an diesem Abend gern verwandt, Frantz murmelte das Wort und wiederholte es auf seinem Weg in die Küche.
    Er… erfolg… erfolgreich.
    Was bedeutete es denn? Reich an Erfolg. Oder macht Erfolg reich? Ist der Erfolg reich? Kommt Erfolg von folgen? Die Schnauze halten, tun, was einem von oben gesagt wird? Oder von Folge, also einer Reaktion auf etwas Vorausgegangenes, vielleicht eines Aufstandes oder einer rechten Geraden? Oder kommt Erfolg von erfolgen? Es erfolgt nun reich. Reicht der Erfolg?
    Frantz versuchte, während er sich ein Brot machte, das Wort so feierlich zu betonen, wie es der alte Büroleiter an diesem Vorweihnachtsabend getan hatte.
    Erfolg-raaiich … er- … er-folg-reeiich,
    und obwohl es ihm nicht recht gelang, fühlte er, wie sein Hass auf dieses Wort wuchs und eine schöne Bitterkeit hinterließ. Frantz wusch sich die (immer noch negativen) Gedanken aus dem Gesicht und fragte sich, wann es eigentlich angefangen hatte. Mit den fünf Tibetern? Oder mit der Möwe Jonathan ? Seither hatte man jedenfalls einen so genannten gesunden Egoismus zu pflegen. Allein diese Paarung. Wo blieb in der Gesellschaft des Substantivs Egoismus und des Adjektivs gesund noch Raum für die Balance?
    Dabei nahm einem das Leben doch alles, dachte Frantz, ob ganz langsam oder mit einem Mal, ob mit einer Katastrophe oder Zahn um Zahn. Mit den Hälsen fängt es an. Aber das mochte ja niemand hören. Nicht einmal Marie-France. Vielleicht, dachte Thomas Frantz, sollte man jeden Morgen mit einem möglichst negativen Gedanken beginnen. Wie Bernd, das depressive Kastenbrot auf dem Kinderkanal. Das nähme dem Tag seine Finte und würde das Quantum Grausamkeit, das er bereithielt, erheblich abfedern. Dann könnte ihn der Tag nicht mehr völlig umhauen, sondern nur noch besser werden, und das, klopfte sich Thomas Frantz auf die Schulter, war bereits ein positiver Gedanke, er war also infiziert.

8. Die Einsamkeit bittet zu Tisch. Sie isst sonst so allein
    Wonach is dir? Frühstück oder Mittagssnack im Operncafé? Zwei ältere Damen in Pelzjacken steigen am Hauptbahnhof zu, Thomas Frantz kann nach der regelrecht geweinten Fassung von Streets of London des letzten Abteilmusikers nicht anders als ihnen zuhören, eine der beiden Damen besucht offensichtlich die andere, das erkennt er schon am Gepäck, Züblin, wo er hinsieht, das Bauunternehmen Züblin, am Stelzengebäude vor dem Tränenpalast, dieser mattblau und irgendwie traurig hinter dem Stelzengetüm, und dann gehen wir ein bisschen Unter den Linden lang, ja?
    Friedrichstraße.
    Ein Stoßtrupp vom Balkan stürmt unter vorgehaltenen Instrumenten das Abteil, Akkordeon, Trompete, Posaune, der Vierte kassiert sofort ab, Hackescher Markt, die Combo stürzt über den Bahnsteig und überfällt den Wagen gegenüber.
    Ach, Frühstück mag ich jetzt nicht. Ich hatte heute Morgen Müsli. Gut, ich hab Entenbrust und Nudeln schon vorgekocht. Ach nee, lieber leicht. Mir ist jetzt nach was Leichtem. Also Operncafé? Da gibt’s zu Mittag was Leichtes. Hab auch zugenommen, ja, seit ich nich mehr qualme, du weißt ja, das ist bei mir

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