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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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Bestellungen rein.«
    Frantz sah wieder über die Straße. Vor dem letzten besetzten Haus in Berlin-Mitte, es lag neben dem jüdischen Beth Café und gelangte dank dieses geographischen Umstands vierundzwanzig Stunden völlig umsonst in den Genuss einer polizeilichen Bewachung, saßen zerzauste, in die Jahre gekommene Kinderladenkinder auf einer anderen Bank und sortierten wurmstichige Äpfel.
    »Und du?«
    »Ich?«
    Thomas Frantz überlegte.
    »Ich bin schon mein ganzes Leben in der Krise. Jetzt kommt die Krise eben auch mal zu den anderen. Ich finde das gut. Ich bin ein Freund der Krise. So ist das.«
    »Tha!«, lachte der Fred. »Genau! Bei uns war’s nie anders. Wir sind’s gewohnt. Also, ’s könnt gar nicht besser laufen. Ich geh am Mittag rein und komm am Morgen wieder raus. Nur Anna Koschke dazwischen.«
    »Klar.«
    »Eigentlich jeden Tag, in letzter Zeit.«
    »Klar.«
    »Auf die Krise.«
    »Auf die Krise.«
    Frantz und Fred hoben ihre Gläser.
    Tha!

6. Die Schlaflosen
    Als krabbelten sie da, zahlreicher als Ameisen, in einem System aus Gängen und Kammern. Es ist, als würde man eine defekte Granitplatte, die aus der Gleichförmigkeit des Gehwegs aufbricht, anheben und darunter sehen. So platzt der Laden aus allen Nähten, scheint es ihm. Als stemmte sich ein anschwellendes, ächzendes Wirrwarr aus Würmern, Asseln und Tausendfüßlern unter einer solchen kaputten Gehwegplatte mit aller Kraft gegen – ja, was entgegen?
    Da schält sich, aus einem dieser Gänge heraus, langsam ein Mann. Er kommt spät. Er ist kein Bodybuilder in Badelatschen wie die anderen. Er hat keine Angst vor Fußpilz. Er kommt spät, und er kommt barfuß. Er trägt Lederbänder um Handgelenke und Oberarme, wie ein Gladiator. Er trägt Lendenschurz, wie der Tarzan.
    Thomas Frantz ist fasziniert.
    Der Körper des Mannes ist braun, geölt und aufs Jota symmetrisch. Sein Bizeps nicht zu fett, der Pectoralis major nicht zu flach, die seitlichen Abdominalmuskeln zeichnen sich über den Rippenbögen ab wie verchromte Luftschlitze eines Roadsters. Er sieht nicht in die Spiegel, wie die anderen. Er spannt seine Muskeln nicht an, lässt die Brust nicht tanzen. Er bewegt sich zwischen den zuckenden, halbnackten Leibern zu Technobeat und Laserlichtern, als ginge er durch sein Wohnzimmer. Thomas Frantz beobachtet ihn wie einen zwar entspannten, aber gefährlichen Bullen, der jeden Moment angreifen kann. Er ist kein steroider T-man mit Billigtattoos, Latexslips und Reißverschlusszähnen, wie die anderen. Sein Gesicht ist nicht eines der Straße. Es trägt keine Narben, keine Zweifel. Seine Züge weisen keine Spannung auf. Seine Statur ist eine anstrengungslose Überlegenheit. Er kommt spät. Er muss nicht das Terrain sondieren, wie die anderen. Ihm wird gehuldigt. In jeder Form.
    Er ist der kahlköpfige König der Schlaflosen.
    Thomas Frantz ist fasziniert von dieser Figur und dem lauten, lackierten Treiben um ihn herum. Es ist nicht wichtig, zu erfahren, wie er hierher gekommen ist. Die schwarzen eisernen Türflügel, die Frantz mit einigem Widerwillen betrachtet hatte, sind hinter ihm geschlossen worden. Er lehnt, introvertiert, Hände in den Taschen, einmal am Ende des Tresens, einmal am Andreaskreuz. Er streift durch die unter einer Galerie gelegenen Räume mit der Affenschaukel. Er steht mal auf dieser, mal auf der anderen Seite der Tanzfläche. Er überragt fast alle um Kopfeslänge. Er sitzt neben der Empore des DJs. Er streicht durch die schweren Vorhänge in den Tantra-Bereich, er sieht die Nackten im Wasser. Er hört, wie zwei Männer in einer Toilette stöhnen. Als könnten sie hier nicht ficken, wo sie wollten. So ist das also.
    Es ist nicht wichtig, zu erfahren, warum er hier ist. Sucht er Sex? Versucht er, sich einer aufreizend spärlich bekleideten Frau zu nähern, wie die anderen? Thomas Frantz ist ruhelos. Behände wie die Samplings im Beat bewegt er sich von einem Ort zum anderen. Er ist hier ein Fremdkörper. Mit seinen rötlich blonden kurzen Locken, dem dunklen Anzug, seiner feinen Verletztheit ist er eine Erscheinung, die wahrgenommen, aber instinktiv und misstrauisch gemieden wird. An jedem Ort bleibt er stehen und betrachtet alles aus einem neuen Winkel. Er trinkt Gin Tonic, einen nach dem anderen. Es ist heiß. Er schwitzt. Sein T-Shirt ist schwarz.
    Frantz sitzt auf einem Loungemöbel am Rande der Tanzfläche. Er lehnt gegen die Wand und schlägt die Beine übereinander. Eine junge Frau legt sich neben ihn. Sie hat

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