Gehwegschäden
meinem Alter werden Leute rausgeschmissen, weil sie so alt sind wie ich. Das spürt man richtig. Irgendwas. Das macht mich wahnsinnig. Ich kann alles sein, nur nicht ohne Arbeit. Das macht mich fertig, völlig fertig.«
Eine Weile schweigt Marie-France.
Auch Frantz schweigt, er weiß nicht, was er dazu sagen soll.
»Es gibt einfach zu viele Kreative.«
»Das stimmt«, sagt Frantz.
»Und dann denkst du, okay, machst du halt was anderes, ja was denn? Wo gibt es denn Arbeit?«
Frantz hat das türkische Fischgeschäft in der Unterführung Adalbertstraße erreicht.
»Gute Frage. Sag mal, wann kommst du heute Abend zum Essen?«
»Zum Essen? Ach, die Muscheln? Hast du Muscheln geholt?«
»Ich stehe gerade vor dem Laden.«
»Ohh, aber leider ich kann nicht.«
»Du kannst nicht?«
»Nein, ich hab doch Arbeit gekriegt. Also ein bisschen. Eine Sprachaufnahme in Hamburg, morgen ganz früh. Ich fahre heute Abend.«
»Gratuliere.«
Er ist die Stufen des kleinen Ladens in das Souterrain hinabgestiegen. Frantz wünscht ihr für den nächsten Tag viel Glück. Marie-France sagt, sie werde ihn am Abend noch einmal anrufen.
»Bisous.«
Frantz hatte Marie-France auf der Party eines Freundes kennengelernt, zu der er bereits angetrunken erschienen war. Sie war ihm sofort aufgefallen. Groß und voller leidenschaftlicher Rundungen, rahmte ein klassischer französischer Pagenschnitt ihr Gesicht. Es war ein Gesicht wie eine griechische Tragödie. Hohe, scharfe Wangenknochen, ein ebenmäßig geschwungener Mund mit vollen Lippen. Wie ein Massif Central ragte ihre Nase daraus hervor, und Frantz verlor sich augenblicklich wollüstig in den Höhlen dunkler Juliette-Gréco-Augen, die umsäumt waren von einem Geflecht feiner Falten und dichten, ebenso dunklen Brauen. Sie standen eine Weile draußen auf der Treppe bei den Rauchern, und Frantz bewunderte ihren hübschen Akzent, der ihre junge Stimme so wunderbar ergänzte. Sie trug einen schwarzen Bolero zu einer engen Jeans, was ihre ausladenden Hüften betonte. Wenn sie lachte, entblößte sie große, starke Schneidezähne und hielt sich sogleich mädchenhaft die Hand vor den Mund, eine späte Angewohnheit, dachte Frantz, um den Makel der Kronen zu kaschieren. Sie sprachen eine Weile französisch. Frantz, trunken und lose, wie er war, lief zur Bestform auf, wechselte dann aber wieder ins Deutsche, schließlich lebte Marie-France seit mehr als zwanzig Jahren in Berlin. Sie habe diesen Akzent jedoch nie ablegen können, sagte sie. Well, never change a winning horse, dachte Frantz, und als sie beim Alter angekommen waren, sagte sie ohne Umschweife und mit todernstem Selbstbewusstsein:
»Ich bin neunundvierzig.«
Frantz verschlug es die Sprache. Er hatte sie gut und gern zehn Jahre jünger geschätzt. Unter einem billigen Vorwand lockte sie ihn zu sich nach Hause. Sie habe da noch eine Flasche Vieille Prune auf dem Wohnzimmertisch stehen. Sie schoben ihre Fahrräder in Richtung Zionskirchplatz, und Frantz bepisste sich beinah bei dem Gedanken an die »Alte Pflaume«. Vor ihrer Haustür fielen sie sich Tränen lachend in die Arme. Marie-France hatte, aller Tragik, zweier gescheiterter Ehen und einem in Frankreich lebenden Sohn zum Trotz, etwas, das Frantz ungemein schätzte: Humor.
Am nächsten Abend stand Marie-France mit einem kleinen Koffer in der Hand vor seiner Tür und fragte, ob sie ein paar Tage bei ihm bleiben könne. Ein überraschender Besuch habe sich aus Hamburg angekündigt, die Frau, eine Kollegin, sei bereits in ihrer Wohnung einquartiert.
Frantz fuhr mit dem Fahrrad umgehend zum Alexanderplatz, einen Fisch zu besorgen. Er stellte sich ein romantisches Dinner in seiner Küche vor. Er wühlte in der Tiefkühlbox des Asia-Ladens, und dieser Eisbehälter stellte für Frantz eine Schatztruhe dar. Darin gab es Jakobsmuscheln und Tintenfische, kiloweise abgepackt, Langustinen und Gambas groß wie Tortenstücke, die in einem anderen Fischgeschäft ein Vermögen gekostet hätten. Er konnte eine Stunde damit zubringen, über diese Truhe gebeugt das ein oder andere Paket, die eingeschweißten Fische herauszunehmen, in der Hand zu wiegen, daran zu riechen und sich vorzustellen, auf welche Weise er die Kostbarkeit zubereiten würde. Frantz liebte Tiefkühlschränke im Allgemeinen. Sie gaben ihm ein Gefühl der Sicherheit, eine Idee von Vorrat. Er hatte sich in der langwierigen und schmerzhaften Phase seiner progressiven beruflichen Verschlankung ein ganzes Arsenal solcher
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