Gehwegschäden
Müller. Er kratzt sich am Ohrläppchen. »Ick bin mir nich mal sicher, ob der hier ein eijenes Büro hatte und permanent hier saß. Insjesamt aber saßen hier rund fünfhundert Leute vonner Reichsjugendführung. Danach ehmt der jesamte Parteivorstand der SED. Die saßen dann im Rundzimmer im zweiten Oje und ham sich die Vorträge anjehört. Da war noch ’ne Schiebewand, für den kleinen Kreis, oder da sind se eene roochen jejangen.«
Frantz nimmt die Hand vom Kinn runter. Müllers Blick folgt dieser Bewegung. Frantz nestelt am Träger seines Rucksacks. Müller hebt die Augenbrauen, reckt seine spitze Nase empor und sieht Frantz wühlmäusig an.
»Wolln wer ma weiter?«
Frantz folgt ihm.
In der zweiten Etage ein identisches Bild. Besenreiner Raum, nur heller. Frantz denkt an das Olympiastadion. Müller steht mit dem Rücken zu Frantz und sieht aus einem der Fenster, die wie in Reih und Glied stehen.
»Jetzt der zweete Umbau. Neunzehnhundertfünfundvierzich wird der in der Sowjetischen Zone jelejene Bau umjehend verstaatlicht. Nach Anjabe des Bezirksamts ist am elften Februar sechsundvierzich die Beschlachnahme nach Befehl hundertvierundzwanzich erfolgt. Et is eines der wenijen intakt jebliebenen Verwaltungsjebäude. Die Leichtbauwände der Nazis werden herausjerissen und durch massivet Mauerwerk ersetzt. Runde Türlaibungen werden einjefasst und Glasbausteine. Über den Empfang in der Einjangshalle kommt ein Relief von Marx und Engels.«
Müller dreht sich um und zückt ein weiteres Papier aus seiner Mappe.
Abschrift. Nachstehend geführte Materialien werden noch für die Baustelle Lothringer Str. 1 benötigt: 25 t Zement, 10.000 Stck. Mauersteine (abgeputzte), 4 t Gips, 10 t Kalk, 1.200 m Fensterglas, 20 Fl. Sauerstoff, 15 Fl. Azetylen, 100 kg Karbid, 50 Rollen Dachpappe, 50 kg Türlack, 25 kg Heizkörperlack, 75 kg Firnis, 25 kg Terpentin, 50 kg Deckweiß, 25 kg weißen Lack für Fenster, 175 kg Oelfarbe für Türen und Fenster, 50 kg Oelfarbe grau oder braun für Fußleisten, 75 kg Kraatz, 75 kg Heizkörperfarbe, 100 kg Sichelleim, 50 kg Testbenzin, 100 kg Holzschrauben, 10 kg Nägel 1“, 10 kg Nägel 1,5“, 30 kg Nägel 2“, 20 Bogen Sandpapier grob, 50 kg Nägel 2,5“, 50 kg Nägel 3“, 100 kg Kaltleim, 100 kg Tischlerleim, Fensterbeschläge für 200 Fenster mit Schrauben und Fetschenstifte, 4 Tf. Schwarzblech 2 mm stark, 25 m Bandeisen 25/3 für 50 Stck. Eckschienen im Keller, 150 Gros Schrauber vers. Kopf M 6/30, 100 Stck. Nieten 6/30, 150 lfd. m Vierkanteisen 20/20 mm, 50 lfd. m Flacheisen 20/5 mm, 25 lfd. m Flacheisen 30/5 mm, 50 Winkeleisen 20/30 mm, 50 lfd. m T-Eisen 15/3 mm, 8 m Eisenblech 1 mm, 6 m Zinkblech, 5 kg Lötzinn, 100 kg Holzkohle, 16 Stck. Klosettbecken S-Traps, 1 Stck. Klosettbecken P-Traps, 19 Stck. Zeitspüler mit Spülrohr, 12 Stck. Klosettdeckel, 5 Stck. Badewannen komplett, 6 Stck. Badebatterien, 8 Stck. Brausebatterien, Bauleitung, gez. Dahms.
»So jenau wird det Bezirksamt Mitte in Kenntnis jesetzt. Daran sieht man, dass et durchaus repräsentativ werden sollte. Tächlich wurden die Belegschaftsstärke von fünfhundertfünfzehn Bauarbeitern jezählt und sämtliche unentschuldigt Fehlenden der Zentralkommandantur jemeldet.«
Er zieht ein weiteres Papier hervor und schiebt die Brille auf seine Nasenspitze.
»Zum Beispiel der Anteil der Firma Holzmann: fünfunddreißich Kranke von hundertachtundsechzich Mann macht zwanzich Komma dreiundachtzich Prozent.«
Müller reißt sich die Brille von der Nase, sieht Frantz ungefähr in die Augen und grinst breit. Seine Zähne sind gelb.
»Een Umbau zur neuen Schaltzentrale der Macht is so akribisch dokumentiert wie der andere.«
»Wahnsinn«, sagt Thomas Frantz.
Müller setzt die Brille wieder auf und blickt auf das Papier.
»Det Schreiben trächt den Titel: Besichtijung des Jonass-Hauses. Det heißt ja, die Parteiführung wusste janz jenau, dass det Haus mal Juden jehört hatte und von den Nazis jenutzt wurde. Wir wussten det aber damals in der DDR nich, wat da vorher in dem Jebäude war. Die Jeschichte des Hauses bejann offiziell erst neunzehnhundertsechsundvierzich. Na ja. Waren ja alle Antifaschisten. Sonst hätten se ja sajen müssen, dasse in ein Jebäude jezogen sind, in dem der Schirach mit seinen Leuten saß.«
Müller kramt in seiner Mappe und hält Frantz zwei Blatt vor, es sind Kopien. Er hält sie hintereinander und gegen das Fenster, so dass Licht sie durchfließt.
»Lecht man die Baupläne der Treuwerk von
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