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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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frequentierte Boulevards. Straßen der Begehungsklasse Zwei sind weniger wichtige Straßen wie Wohn- und Seitenstraßen. Straßen der Begehungsklasse Eins müssen vom Begeher einmal alle zwei Wochen begangen werden. Straßen der Begehungsklasse Zwei begeht der Begeher in seinem Quartier in einem Turnus von zwei Monaten.
    Es ist hierbei festgelegt, dass der Begeher eine Begehungsgeschwindigkeit von 2,5 Kilometern pro Stunde nicht überschreiten darf. Der Begeher hat in Ruhe zu gehen und auf den Boden zu sehen.

VERZWEIFLUNG

11. Schachboxen ist ein Experiment. Thomas Frantz ist geerdet in seiner Freimaurerloge unter der Stadt
    Nicht das Schach bestimmt das Boxen. Das Boxen bestimmt das Schach. Durch die vergitterten Fenster der Boxhalle zur Straße hinauf fließt sanftes Licht. Thomas Frantz ist ganz bei sich. Der Kellerraum absorbiert die Geräusche der Straße und ist erfüllt von den Gerüchen der Körper; Schweiß perlt von den Wänden, von den Spiegeln. Seine Hände sind bandagierte Flugzeugträger.
    Er sitzt auf einem Klappstuhl in diesem Ring, er atmet schwer. Ein Tropfen fällt von seiner Stirn auf das Feld der schwarzen Dame. Er zieht mit der Linken, ruhig, überlegt, und schlägt, die Figur berührt kaum das Holz, auf die Uhr. Tack. Nicht das Denken bestimmt das Handeln, das Handeln bestimmt das Denken. Tack. Bauer d2 auf d4, und Tack. Das Adrenalin kontrollieren. Tack. Läufer c1-g5, und Tack. Flüchten oder angreifen. Tack. Springer g1-f3, und Tack. Schlagen oder verteidigen. Im Ring wie auf dem Brett.
    Er ist nicht alt, er ist nicht jung, er ist eine serielle Schnittstelle. Er ist hier unten das Experiment. Das Experiment einer Zeit, in der das Boxen und das Schach zueinanderfinden. Sein Gesicht ist groß, sanft, breiig. Eine Narbe zerhackt seine buschige Braue, man könnte einen kleinen Hund darin verlieren. Thomas Frantz hat klare Augen.
    Wenn man einen Schachspieler und einen Boxer gegeneinander antreten lässt, wird meist der Schachspieler übel zugerichtet. Der Boxer weiß nicht, wie er Schach spielen soll, der Schachspieler hat keine Ahnung, wie er sich im Ring zu decken hat. Es gibt nur wenig Harmonie zwischen den beiden Extremen: Es sind zwei Sportarten, die innerhalb eines Quadrates stattfinden und in denen die Kombattanten auf einem Podest vom Publikum umringt werden.
    Das Rundenzeichen ertönt, das Schachbrett wird aus dem Ring getragen. Der Kampf geht weiter. Die Gegner streifen ihre Handschuhe über und gehen aufeinander los. Thomas Frantz haut Jabs raus, eine Rechte, er duckt sich. Seine Hände hängen schwingend herab, schnellen abwechselnd das Gesicht deckend zurück an seinen Kopf, er weicht aus; die Seile umarmen ihn wie einen Sohn.
    Die Idee des Schachboxens ist nicht, einen perfekten Körper zu haben. Die Idee ist, einen perfekten Körper und einen perfekten Geist zu erlangen. Die Kluft zwischen Intelligenz und Kraft zu überwinden. Das ist eine zutiefst faschistische Idee. Eine Idee des 20. Jahrhunderts, die im 21. Jahrhundert wiedergeboren wird. Eine perfekt menschliche Arroganz. Es existiert ein Riesenraum zwischen überlegener Intelligenz und brutaler Kraft, die a priori diese intellektuelle Kapazität nicht hat. Dieser Raum soll hier unten geschlossen werden. Der Mensch kann sich anpassen, das ist seine Kraft. Ein Ehrgeiz, der es ihm erlaubt, zugleich an seiner Physis und an seiner Schachkompetenz wie an zwei Teilen des gleichen Egos zu arbeiten. Darin liegt eine Ästhetik der Dekadenz, eine Abgründigkeit.
    Andererseits: War diese Kluft wirklich so groß? Sprach man nicht allenthalben von boxerischer, von fußballerischer Intelligenz? Hatte nicht sogar manches berühmte Rennpferd das Genie des Menschen weit hinter sich gelassen? Schließlich hatte Frantz einmal gelesen, »dass die Griffe und Listen, die ein erfinderischer Kopf in einem logischen Kalkül anwendet, wirklich nicht sehr verschieden von den Kampfgriffen eines hart geschulten Körpers« seien. »Sollte man einen großen Geist und einen Boxlandesmeister psychotechnisch analysieren, so würden in der Tat ihre Schlauheit, ihr Mut, ihre Genauigkeit und Kombinatorik sowie die Geschwindigkeit der Reaktionen auf dem Gebiet, das ihnen wichtig ist, wahrscheinlich die gleichen sein, ja sie würden sich in den Tugenden und Fähigkeiten, die die ihren besonderen Erfolg ausmachen, voraussichtlich auch von einem berühmten Hürdenpferd nicht unterscheiden, denn man darf nicht unterschätzen, wie viele bedeutende Eigenschaften ins

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