Gehwegschäden
Klingelbüchse unter die Nase hält, darauf sein Bild und Kinder in Not. Sogar auf seinem Rücken haftet noch das Bild eines ausgemergelten Kindes mit großem Kopf und Wasserbauch. Das ist seine Masche, das zieht immer, besonders beim Essen. Danke. Entschuldigung, dass ich Sie gerade beim Essen störe. Er zieht das Wort Entschuldigung merkwürdig in die Länge, aha, ich wollte Sie nicht beim Essen stören, auch das, das Wort stören, merkwürdig lang, und spätestens beim »nicht« hat Frantz es erraten, nicht stören, mmmh, entschuldigen Sie, im »nicht« ein verräterischer Kehllaut, mmmh, erwischt, Russe, ganz klar, mir ziehste nich am Lümmel – da erscheint der Mime halb links und die Ostberliner Kellnerin im Dirndl mit seinem Schweinsbraten.
Thomas Frantz beißt auf ein Stück krosse Schweinskruste und lässt die Krümel genüsslich auf der Zunge zergehen. Saftig das und fettig. Aber das Fett und die Kruste sind nun mal das Beste, was das Schwein zu bieten hat, da hilft alles Betteln nix, der Russe kassiert ab, und der Mime trägt einen Filzhut, sieben Minuten, schwarz und spitz wie ein Tiroler, aber ein Schweinsbraten will in Andacht gegessen werden. Dazu braucht es eine Konzentration. Der Mime hat ein weiß bemaltes Gesicht und spannt ein Drahtseil von der Laterne zum Baum genau zwischen Café Barist und dem Restaurant Weihenstephaner, Konzentration, er hat zwei metallene Ringe unter dem rechten Arm und vier bunte Bälle in der Linken, sieben Minuten hat er Zeit, Thomas Frantz unterbricht seinen Schweinsbraten mit Knödeln, er stoppt das auf seiner Uhr.
Eigentlich passt der Schweinsbraten gar nicht hierher. Der Schweinsbraten verlangt eine würdige Atmosphäre, er verträgt sich nicht mit Schwedisch und Thüringisch und schon gar nicht mit lauter Rockmusik, zum Schweinsbraten gehört eine Hausmusik mit Zither und Konzertguitarre, eine Mittagssendung des Radio Oberlands oder wenigstens eine Ruhe, aber Thomas Frantz wäre es drinnen jetzt viel zu heiß, und außerdem ist jemand, der um halb zwölf nachts einen Schweinsbraten am Hackeschen Markt isst, sowieso nicht ganz dicht.
Der Mime läuft, Laterne zu Baum, Baum zu Laterne, sieben Minuten, Thomas Frantz stoppt das und schreibt das auf, und da klatschen sie schon, aber an der falschen Stelle, weil das war dahinten, das war bei den Feuerschluckern, den schmalen Spacken, das war nicht hier, und die Uhr, die läuft ja noch für den Seiltänzer, Frantz schneidet den zweiten Knödel an. Es sind hier Knödelettes, damengerechte Portionen, vogeleigroß, das hat weniger Kalorien, das macht nicht dick, der Akt ist im Gang, der Mime taumelt, schwankt und wirft den ersten Reif in die Luft, fängt ihn wieder, wirft den zweiten, fängt ihn mit dem Fuß, taumelt, mira! – die Italiener haben ihn entdeckt. Mira, questo, guarda lui. Der Mime schwankt und schwitzt schon übers weiß getünchte Gesicht zwischen Laterne und Baum, sieben Minuten, die Reife zurück auf die Schulter und die Bälle hinauf, grün, fluoreszierend, oh my God, es blitzt aus allen Handys, I hope he’s not … – is he gonna fall?
Er fällt.
Die Bälle fallen auch und ein paar Blätter vom Ast, an dem er sich fängt. Der Mime steht, schiebt die Reife auf die Schulter und sammelt seine Bälle, zurück aufs Seil. Wirft die Bälle, Reife, alles auf einmal, fängt sich selbst und hat alles gefangen, Applaus, sogar an der richtigen Stelle, und dann setzt der Jazz ein, die sieben Minuten sind um, der Mime springt, grade noch in der Zeit, vom Seil.
Die Cool Jazz Band besteht aus Bass, Sax und Synthe. Der Akt beginnt, der Mime kassiert, das ist hier so, denkt Frantz, die Abkassiererin der Jazzband scheucht ihn schon, den Mimen, wer hier so tut, als wüsste er’s nicht, hat hier kein Recht, jedenfalls hat er Recht, Thomas Frantz, und er behält es gerne, das Recht, sieben Minuten, das ist so, das ist hier geltendes Recht. Viel hat er nicht gekriegt. Der Kindernotrusse bedeutend mehr. Der Mime rekuperiert das Seil zwischen Laterne und Baum, did it taste well, honey? Im Zweifelsfall hat er noch mehr Glück gehabt als die Gäste, denkt Frantz. Die werden rundherum schon fünf Minuten nach der letzten Bestellung abkassiert. Thomas Frantz dagegen bestellt ein frisches Bier.
»Sorry«, entschuldigt sich die Ostberliner Bedienung im bayerischen Dirndl.
»Scho guad«, sagt Frantz.
Da kommt der Zeitschriftenverkäufer.
»Krisenticker! Krisenticker! Leute, lest den Krisenticker! 12.08 Uhr: Offener Tumult im
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