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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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das?«
    »Von der Polizei.«
    »Ach du Schreck!«
    Thomas Frantz fasst sich an den Kopf. Absurd, das Ganze. Fred prostet Cynthia zu. Frantz nippt, noch immer bestürzt, an seinem Bier. Dann setzt er ab, und sie stoßen beide auf Cynthia an. Cynthia lächelt.
    »Was bitte ist ein Neglect?«
    »Die Folge einer Gehirnblutung. Teile der linken Gehirnhälfte sind eben futsch«, sagt Fred. »Danach muss die rechte Hälfte neue Verbindungen knüpfen und die Aufgaben der anderen Seite mit übernehmen. Ich meine, sie hatte ja schon immer Wahrnehmungsstörungen, aber jetzt halt richtige. Seither liest se zum Beispiel ein Wort wie Autobiographie nur ab der Hälfte, wenn’s am Zeilenanfang steht.«
    »Ich les dann iographie, hab aber gelernt, mir den Rest dazuzureimen«, sagt Cynthia.
    »Wenn se allein über die Straße geht, denkt se, es sei alles richtig, vergisst aber, dass se links alles übersieht. Das ist superinteressant. Diese Leute leben in einer anderen Welt. Eigentlich ein Romanstoff. Grauenvoll. Eine Ausblendung der linksseitigen Welt. Absolut genial, was die Cynthia da macht. So, wie sie jetzt die Welt begreift, funktioniert sie, aber sie findet alles ’n bisschen komisch.«
    Thomas Frantz ist erschrocken.
    »Irgendwann heilt’s wohl vollständig wieder aus. Also zu 96 Prozent. Lesen kann se aber immer noch nicht richtig. Weil se immer nur ’ne halbe Zeile liest und darunter wieder ’ne halbe Zeile, was dann keinen Sinn ergibt.«
    »Man kann mit Tricks arbeiten. Indem man ein paar Zentimeter hinter das Zeilenende ’ne Linie zieht.«
    Cynthia sieht auf die Uhr.
    »Die heilige Stunde? Isch’s schon so weit?«
    »Was, ›Sturm der Liebe‹?«, fragt Frantz.
    »Gleich. Ich kann nich mehr ohne.«
    Cynthia lacht.
    »Geht mir genauso«, sagt Fred.
    »Heute sag ich immer, ich sehe mich jetzt als behindert an. Meine sichtbare Behinderung hab ich nie als Behinderung empfunden. Aber dass ich nich mehr richtig schauen kann, empfinde ich als Behinderung. Ich bin auch immer noch vergesslich, und manchmal such ich ein Wort oder ich verwechsle Wörter, zum Beispiel Anamnese und Amnesie. Ich habe mich verändert. Ich sag jetzt: mein neues und mein früheres Leben. Die alte Cynthia gibt’s nich mehr. Früher war ich sehr nach außen gewandt. Jetzt bin ich bei mir selbst.«
    Cynthia stützt ihren Kopf in die linke Hand.
    »Äh … und wenn du da auch mal, wenigstens eine Stunde, bleiben würdest? Wo sind meine Socken? Hasch meinen Stift gesehen? Wo isn die grüne Bluse …«
    »Ich vergess halt manchmal was.«
    »Und dann rufsch mich im Büro an, und ich soll dir sagen, wo dein Bleistift ist?«
    »Ich muss immer noch viel lesen, viel üben. ’ne Therapie krieg ich keine mehr. Zahlt die Kasse nich.«
    Thomas Frantz ist in sich zusammengesackt.
    »Wann war denn das?«
    »Och, das ist jetzt vier Jahre her. Zwei Wochen saß er damals neben meinem Bett. In der Charité. Er hat immer meine Hand gehalten. Tag und Nacht. Nich ma Bier holen war er.«
    Fred wird rot. Cynthia tastet nach seiner Hand.
    »Und ich hab die meiste Zeit geschlafen.«
    »Das könn mer ja jetzt nachholen. Prosch!«
    »Ich kann mir was Bessres vorstellen im Leben, als Alkoholikerin zu sein.«
    »Ich nicht.«
    Fred grinst.
    Thomas Frantz schüttelt sich, innerlich. Er hat völlig vergessen zu rauchen. Er steckt sich eine an. Langsam entspannt er sich. Sie streichelt Freds Hand. Fred sieht an die Decke. Frantz wundert sich. Ihre blauen Augen stehen eine Nuance auseinander. Das war ihm noch gar nicht aufgefallen.
    Frantz macht ihr ein Kompliment.
    Cynthia fasst sich an den Hals.
    »Wo isn mein Schal?«
    Wortlos steht Fred auf, verschwindet im Flur, kommt nach einer Weile mit zwei Bier und einem Schal zurück, den er um ihren Hals bindet.
    »Ich muss immer warm haben.«
    Sie lächelt. Zuckersüß. Freds Wort fällt Frantz plötzlich ein. Es ist, als zaubere ihr Anblick mit einem Mal in sein eigenes Gesicht ein Lächeln, dessen Zwang er sich nicht erwehren kann.
    »Mensch, pass doch auf! Du erwürgst mich ja!«
    Fred sinkt in sein Sofa. Er macht, allen Blessuren und der doppelt verbogenen Brille zum Trotz, einen zufriedenen Eindruck. Cynthia stellt den Fernseher an. Frantz nimmt im Sessel eine bequemere Haltung ein. Die Serie beginnt mit einem Überblick über die vorangegangen Ereignisse: Debbie will in Italien studieren. Michael will das Studium dort nicht finanzieren. Debbie und Jacob versuchen, sich mit der Idee einer Fernbeziehung anzufreunden. Frantz stellt die

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