Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Wochen immer mehr Spekulationen gab, Krupp habe Selbstmord verübt, drohte Vogt in Schwierigkeiten zu kommen. Doch der Skandal legte sich und 1906 erneuerte Krupps Nachfolger als Leiter des Stahlimperiums alle Zusagen seines Vorgängers, unter anderem jene mit Bezug auf das Neurobiologische Laboratorium. Die Beziehungen zur Universität jedoch blieben alles andere als entspannt. Dass Brodmanns neurotopographische Studie, die in Vogts Laboratorium durchgeführt wurde, von der Medizinischen Fakultät ohne Umschweife abgewiesen wurde, hat wahrscheinlich lediglich den Einreichenden überrascht.
Brodmann zog selbst die Konsequenzen. Er nahm sein Nomadenleben wieder auf und trat eine Stelle als Arzt im Anatomischen Laboratorium der Klinik für Nervenkranke an, die zur Universität von Tübingen gehörte, wo er sich schließlich doch noch habilitierte. 1913 folgte eine Ernennung zum außerordentlichen Professor. Kurz darauf brach der Krieg aus, der seinen Forschungen ein Ende bereitete. Brodmann meldete sich als Freiwilliger und arbeitete in einem Lazarett in Tübingen, in der Abteilung für Nervenkranke. Erst 1916 bekam er in Halle an der Saale eine Anstellung, die ihm finanzielle Sicherheit gab. Hier lernte er Margarete Franke kennen, die 1917 seine Frau wurde.
In der Zwischenzeit hatte sich Kraepelin, Direktor der Königlich Psychiatrischen Klinik in München, auf die Suche nach neuen Mitarbeitern für sein Anatomisches Laboratorium begeben. Nach dem Weggang von Alzheimer und Levy waren Stellen frei geworden. Für die Leitung der Abteilung topographische Histologie hatte er Brodmann vorgesehen. Im Frühjahr 1918 zog Brodmann zum soundsovielten Male in seiner Karriere um, doch diesmal befand er sich in Gesellschaft seiner Frau und seiner gerade geborenen Tochter Ilse. Endlich stimmte alles. Er war glücklich in seiner Ehe und Familie. Er verfügte über die besten Instrumente, die es gab. Er stand einem Kreis talentierter Gastforscher vor.
Das Glück währte keine fünf Monate. Anfang August flackerte eine Infektion wieder auf, die er sich bei einer früheren Autopsie zugezogen hatte. Die darauf folgende Blutvergiftung nahm ein schnelles und fatales Ende: Brodmann starb am 22. August 1918 im Alter von 49 Jahren. Wenige Monate später starb nach kurzer Krankheit auch seine Frau. Die kleine Ilse wuchs in der Familie ihrer Großeltern auf. Als 1993 zwei amerikanische Neurologen in Neurology eine Diskussion über Brodmanns >missing numbers< initiierten, stammte eine der Bitten um einen Reprint von Ilse Brodmann. 26
DAS HAUPTQUARTIER DES WAHNSINNS DAS CLERAMBAULT-SYNDROM
So könnte ein Film anfangen. Paris, 4. Dezember 1920. Eine knapp fünfzigjährige Frau steigt erregt aus einem Wagen der Metro und spricht zwei Polizisten an. Sie behauptet, verfolgt und von anderen Reisenden verspottet zu werden, und verlangt, beschützt zu werden. Die Polizisten haben keine Ahnung, wovon die Frau spricht. Die Frau regt sich auf, frustriert über ihre Weigerung, einzugreifen. Zum Schluss ist sie so wütend, dass sie Ohrfeigen austeilt. Sie wird festgenommen.
In der nächsten Szene ist sie in die >Infirmerie Speciale< gebracht worden, eine psychiatrische Auffangstelle auf der Ile de la Cite. Die Frau sitzt an einem Tisch einem auffallend gepflegten Herrn gegenüber. Die Befragung dauert nicht lange. Er notiert ihren Namen, Lea-Anna B., 53 Jahre, und beschreibt ihre Wahn-
244 Das Hauptquartier des Wahnsinns
Clerambault befragt eine Vorgeführte in der Infirmerie.
Vorstellungen in wenigen Stichworten. Sie glaubt, der König von England sei in sie verliebt und Unbekannte hätten es auf ihr Geld abgesehen. Er überweist sie in die psychiatrische Anstalt Sainte-Anne. Der Aufnahmebericht ist kaum zehn Zeilen lang. Unterzeichnet: Dr. de Clerambault.
Wenige Wochen später präsentieren Clerambault und sein Kollege Brousseau ihren Fall während einer Sitzung der Societe Clinique de Medecine Mentale. 1 Die Wahnvorstellungen von Lea-Anna haben offensichtlich eine lange Vorgeschichte. Einst Verkäuferin in einem Modegeschäft, wurde sie früh die Geliebte eines reichen Mannes in hoher Stellung, der sie achtzehn Jahre lang finanziell unterstützte. Als er 1907 starb, fand sie schon bald einen neuen Liebhaber und Eigentümer eines Schlosses. Er schenkte ihr ein Haus und bat sie, in seine Nähe zu ziehen. Die Tage auf dem Land wurden ihr lang und allmählich vereinsamte sie. Nach vier Jahren kam es zu einem Bruch, wahrscheinlich, meint
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