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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Konglomerats psychiatrischer Anstalten.
    1905 hat Clerambault verschiedene Optionen. Er kann eine Praxis eröffnen, in einem Krankenhaus arbeiten oder eine akade-
    mische Laufbahn einschlagen. Doch er entscheidet sich für ein Viertes: eine Anstellung bei der Infirmerie. Die Infirmerie Speci-ale du Depot, 3 Quai de l’Horloge, war 1872 in der Absicht gegründet worden, das Einsperren Geisteskranker zu vermeiden, im krassen Gegensatz zur herrschenden Praxis in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts. Als Clerambault seinen Dienst antrat, verfügte die Infirmerie über elf Zellen für Männer und sieben für Frauen. Drei der Zellen waren gepolstert. In den fast dreißig Jahren, in denen Clerambault in der Infirmerie arbeitete, zog ein schier endloses Defilee auf Abwege geratener Geister an ihm vorbei. Jedes Jahr mussten Entscheidungen über zwei- bis dreitausend Menschen gefällt werden, was in der Regel auf die Wahl zwischen Gefängnis oder Anstalt hinauslief. All diesen Menschen war gemeinsam, dass die Polizei sie von der Straße aufgelesen hatte. Es waren Absinthtrinker dabei und Ätherschnüffler, Morphinisten und Opiumraucher, Menschen, die einen Selbstmordversuch unternommen oder einen epileptischen Anfall gehabt hatten, Brandstifter, Exhibitionisten, Fetischisten, Vergewaltiger, ausgerastete Schwachbegabte und verwirrte Demenzerkrankte. Nach einer kurzen Befragung verfasste Clerambault ein knappes Gutachten; schätzungsweise dreizehntausend stammen von seiner Hand. Es sind psychiatrische mug shots, nach den Personalien folgt eine Beschreibung der Symptome, der Grund der Festnahme, der aktuelle Zustand und eine vorläufige Diagnose, dies alles im Telegrammstil. Das Team der Infirmerie konnte die Vorgeführten freilassen oder an ein Krankenhaus überweisen, aber meist erfolgte die Aufnahme im Sainte-Anne.
    Die meisten Pariser Bürger, die in der Infirmerie landeten, werden von der humanitären Absicht, in der die Anstalt gegründet worden war, schon bald wenig gespürt haben. Die Infirmerie war in einem grimmigen, schwarzen, neogotischen Gebäude untergebracht. Im Inneren war es ein Elendsquartier. Die Zellen waren schmutzig, der Umgang von Seiten des Personals grob. Aber was den größten Widerstand hervorrief, war die Allmacht des Chefarztes. Er entschied über Freiheit oder Zwangseinweisung, konnte aber auch die Vorgeführten willkürlich zur Beobachtung im Depot festhalten - drei, sechs, neun Tage lang. Die Presse stand der Infirmerie feindselig gegenüber. Regelmäßig erschienen Artikel über Freilassungen und Rückfälle, aber auch über Vorgeführte, die für unbestimmte Zeit festgehalten worden waren. Ab und zu kam es vor, dass jemand aus höheren Kreisen aufgrund irgendeines Zwischenfalls - Trunkenheit in der Öffentlichkeit, ein Handgemenge - in der Infirmerie landete, sich zwischen Ladendieben, Messerstechern und Freudenmädchen wiederfand und vollkommen rechtlos in einer schmutzigen Zelle abwarten musste, was die Herren Psychiater über ihn verfügten. Dasselbe konnte selbstverständlich auch jemandem aus niedrigeren Kreisen passieren, doch der Unterschied war, dass der Reiche, sobald er wieder auf freiem Fuß war, den Weg zur Presse fand, was dazu führte, dass regelmäßig Kampagnen gegen die Infirmerie geführt wurden.
    Einer der Chefarzt-Vorgänger Clerambaults hatte die Infirmerie als »Hauptquartier des Wahnsinns« bezeichnet; es war gleichzeitig auch das Hauptquartier der französischen forensischen Psychiatrie. Alle Straftäter aus diesem großen, hektischen Paris, bei denen eine Geistesstörung vermutet wurde, landeten letzten Endes in diesem einen Saal der Infirmerie, um nach der Befragung wieder über Krankenhäuser, Anstalten und Gefängnisse auszuschwärmen. Clerambault brauchte sich nicht zu seinem Studienmaterial zu begeben, es zog an seinem Büro vorbei und aufgrund der Trichterposition der Infirmerie in einer Konzentration, wie man sie in den Anstalten nicht beobachten konnte. In so gut wie allen Fallstudien Clerambaults treten Männer und Frauen auf, die ihm irgendwann einmal gegenübergesessen hatten. Repräsentativ für die Art und Weise, wie Clerambault seine psychiatrische Arbeit von dem nährte, was die Gendarmerie bei ihm ablieferte, sind die Artikel über vier Frauen, die zwischen 1902 und 1906 vor ihm erschienen waren. 8 Im Hintergrund ihrer Delikte stand eine Gemeinsamkeit, die wahrscheinlich nur von diesem privilegierten Beobachtungsposten am Quai de

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