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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Clerambault, weil sich langsam ihre Wahnvorstellungen zu entwickeln begannen. 1917 glaubte sie, ein amerikanischer General, der ein Truppenlager in der Nähe befehligte - wir befinden uns in der Zeit des Ersten Weltkriegs -, habe sich in sie verliebt, und jetzt, 1920, war sie davon überzeugt, dass George V. von England in sie vernarrt war. Angeblich machte er ihr bereits seit 1918 über geheime Botschaften Avancen - und hier lag zugleich auch das Problem, das einzige Problem ihrer Wahrnehmung nach: Sie hatte diese Avancen zu Beginn gar nicht bemerkt.
    Der englische König versuchte, ihr seine Absichten mit Hilfe spezieller Offiziere zu übermitteln, die in Lea-Annas Umgebung auftauchten. Sie tarnten sich als Matrosen oder Touristen, aber sie durchschaute zu spät, dass sie von George V. geschickt worden waren. Im Nachhinein wurde ihr bewusst, dass diese Blicke des Einvernehmens, diese kryptischen Bemerkungen und geheimen Zeichen für sie gedacht gewesen waren. Anfangs hatte sie das alles nicht verstanden. Erst als sie während einer Zugreise einen Offizier aus dem Gefolge von General Liautey getroffen hatte, wurde es ihr klar: Er berichtete in verblümten Worten, er sei ein Gesandter Georges V. Danach konnte sie allerlei kleinere Ereignisse erst richtig einordnen: das eine Mal zum Beispiel, als es am späten Abend an ihrer Hotelzimmertür geklopft hatte, war es natürlich der König gewesen, der auf ein Rendezvous hoffte.
    Aber jetzt war eine heikle Situation entstanden. Aus der Tatsache, dass sie nicht auf seine Avancen eingegangen war, musste George V. geschlossen haben, sie weise ihn ab. Nichts dergleichen! Sie empfand eine große Liebe zu ihm. Sie musste ihm persönlich erklären, dass es sich um ein komplettes Missverständnis handelte und sie seine Liebe selbstverständlich erwiderte. Lea-Anna reiste nach London, in der Hoffnung, den König sprechen zu können. Tagelang trieb sie sich am Buckingham Palace herum. Ab und zu gab es ein Zeichen vom König, dann bewegte sich hinter einem der Fenster des riesigen Palastes kurz ein Vorhang, um sie wissen zu lassen, dass er sie sah, aber zu einem direkten Kontakt kam es nie. Nach der zigsten vergeblichen Reise - sie hatte mittlerweile Tausende von Francs dafür ausgegeben - war sie wütend und frustriert nach Paris zurückgekehrt. Auf einem Bahnsteig der Metro hatte sich dann der Zwischenfall ereignet, der zu ihrer Festnahme führte.
    EROTOMANIE
    Clerambault erläutert seinen Kollegen, seine Patientin leide an einer Störung, die er als >erotomanes Syndrom« oder >Erotomanie< bezeichnet. Die üblichen Charakteristika seien allesamt bei Lea-Anna B. wiederzufinden. So stecke beispielsweise auch ein Element von Größenwahn darin: Das >Liebesobjekt< ist immer eine hochgestellte Persönlichkeit, er ist reich oder besitzt großes Ansehen. Der Patientin zufolge sind die Avancen vom >Liebesobjekt< ausgegangen, er hat angefangen, sie hat reagiert. Er kommuniziert über Zeichen, die nur sie verstehen kann, in seiner Stellung ist es unmöglich, sich öffentlich zu seiner Liebe zu bekennen. Alles, was sie erlebt, interpretiert sie vor dem Hintergrund des Wahns, der andere begehre sie und suche Kontakt. Das Einzige, was bei Lea-Anna vom normalen Verlauf der Störung abweiche, sei der allmähliche Beginn: Meist entstehe der Wahn unmittelbar nach einer Begegnung - Liebe auf den ersten Blick.
    Nach dieser Einführung wird Lea-Anna hereingebracht. Clerambault hat ihr eingeredet, sie erscheine nun vor einem Komitee wichtiger Männer, deren Ansehen bis nach England reiche, und sie müsse nun die Gelegenheit nutzen, um für ihre Sache beim König einzutreten. Während der Demonstration gibt er vor, wirklich eine Begegnung mit dem König für sie arrangieren zu können, aber noch daran zu zweifeln, ob das wohl vernünftig sei. Ob sie sich auch beherrschen könne, wenn sie ihrem Verehrer Auge in Auge gegenüberstehe?
    »Ich halte meine Hände so, auf dem Rücken, und Sie können
    sich hinter mich stellen, um mich zurückzuhalten.«
    »Ich fürchte auch, Sie könnten ihm an den Hals fliegen.«
    »Dann können Sie mich immer noch festhalten.«
    »Ja, aber was werden die Prinzessinnen wohl dazu sagen?«
    »Die werden nicht dabei sein.«
    »Aber Sie haben mir erzählt, sie seien sehr interessiert an
    dieser Sache?«
    »Das ist etwas zwischen ihm und mir.« 2
    Auf die Bitte Clerambaults zieht sich Lea-Anna kurz zurück, um dem König einen Brief zu schreiben. Nach einer Viertelstunde

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