Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Menge Seide gekauft haben. Wenn man mir ein Stück Seide gäbe, wenn ich kurz davor bin, es zu stehlen, würde mich das in keiner Weise befriedigen, im Gegenteil, es würde mir den Genuss nehmen. 9
Wie F. - unwissentlich - auch für die anderen Frauen sprach, so sprach Clerambault in seiner Analyse für die französische Psychiatrie. Die Diagnose wirkt wie ein Aufzug von Schimpfwörtern. So waren beispielsweise alle vier Frauen >hysterisch<. Clerambault verlor darüber nicht viele Worte, es war eher eine Einordnung der Frauen in den Bereich der Geistesschwäche und in ein Nervensystem, das für Überreizung zugänglich war, bei ihnen vor allem durch Tasteindrücke. Des Weiteren waren alle vier >frigide<. Dieser Stempel bedeutete hier: nicht zu normaler - lies heterosexueller - Erregung in der Lage. Das häufige Masturbieren unterstrich für Clerambault ihre Frigidität. Zwei von ihnen hatten während des Masturbierens auch Fantasien über Frauen, was zusammen mit der Vorliebe für die Selbstbefriedigung für das Urteil >pervers< reichte. Über ein viertes Etikett konnte ebenso wenig Zweifel bestehen: >degeneriert<. Das bewies schon ihre Abstammung. V. B. hatte eine Großmutter, die als Geistesgestörte gestorben war, ebenso wie eine Tante, die übrigens auch masturbiert hatte. Ihr Vater und ihr Bruder, beide schon verstorben, waren >tres ner-veux<. Ein Neffe, achtzehn, war ebenfalls schon >masturbateur<. Als Clerambault den Exmann von B. zu einer Befragung einbestellte, reichte ihm ein einziger Blick: ein wandelnder Beweis für >die gegenseitige Anziehungskraft von Degeneriertem. 10 Auch die anderen Frauen hatten eine belastete Familiengeschichte.
Die Beweisführung war schlüssig, unerschütterlich und in hohem Maße zirkulär. Hysterie, Frigidität, Perversion und Degeneration definierten sich größtenteils gegenseitig. Masturbation verwies auf Frigidität und Perversion und diese beiden Abweichungen zusammen ergaben wieder einen Hinweis auf Degeneration. Obwohl die Frauen nach Auffassung Clerambaults offensichtlich Psychiatriepatientinnen waren - er bezeichnet sie durchgängig als »malade« -, hatte ihre Krankheit keine entschuldigenden Konsequenzen. Es gibt auch keinerlei Hinweise, dass er etwas unternommen hätte, um sie vor dem Gefängnis zu bewahren. Es sieht eher danach aus, dass er sie für krank und verdorben hielt, für unheilbar gestört, mit einer Abweichung, die einer schicksalhaften und unabwendbaren genetischen Entgleisung entstammte. Dass V. B. wegen des Diebstahls zu 26 Monaten verurteilt wurde, berichtet er kommentarlos. Dass manche Frauen Angst hatten, in eine Strafkolonie deportiert zu werden, entlockt seinem Stift lediglich die kühle Warnung, die Herren Kollegen müssten nun besonders gut auf Simulanten achten. Außerdem notiert er noch, die Frauen seien >amoralisch<. Dass sie so freimütig über die intimsten Details ihres Lebens berichtet hatten, bestätigte dies nur.
Ist es möglich, dass etwas von dieser Leidenschaft in Clerambault selbst schlummerte? 1910, in demselben Jahr, in dem er zum zweiten Mal über die Seidendiebinnen schrieb, erfasste ihn in Tunesien eine Leidenschaft für fernöstliche Gewänder und Schleier. Während des Ersten Weltkriegs wurde er auf eigenen Wunsch nach Marokko geschickt, das damals französisches Protektorat war. Das Land verzauberte ihn. Er lernte fließend Arabisch sprechen und kehrte nach dem Krieg dorthin zurück, um marokkanische Gewänder zu fotografieren. Die auf diese Weise entstandene Sammlung war sehr umfangreich - ca. 4000 Abzüge - und von monomaner Einseitigkeit: keine Landschaften, keine Städte, fast keine erkennbaren Personen, nur eine endlose Variation verschleierter Männer, Frauen und Kinder. Einige hundert sind erhalten geblieben. Clerambault hat die geheimnisvollen Fotos zeit seines Lebens nie ausgestellt und auch nicht für seine Vorlesungen über das Drapieren von Stoffen benutzt, die er in den zwanziger Jahren an der Ecole des Beaux-Arts hielt. 11 Nach seinem Tod fanden Freunde in seiner Wohnung noch eine Sammlung. Offensichtlich hatte Clerambault Stoffe gesammelt -man fand seltene Pelzarten, Seide, Samt, Satin, Taftseide, Tarlatan und Baumwolle. Freunde entdeckten auch die Holzpuppen, auf denen er die Stoffe drapierte. Anscheinend ließ auch Clerambault gern Stoffe durch seine Hände gehen.
Clerambault machte gut 4000 Aufnahmen von Gewändern, die im Mittelmeerraum getragen wurden. Auf nahezu allen Fotos sind verschleierte
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