Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
verschwundenen Person sehen. Umgekehrt fehlt bei Prosopagnosie die Selektivität des Capgras-Syndroms: Nicht nur die Gesichter nahestehender Menschen werden nicht erkannt. Auch in weiteren Punkten unterscheidet sich der durchschnittliche Prosopagnostiker von dem Capgras-Patienten. Bei Prosop-agnostikern handelt es sich in der Regel um Männer mittleren Alters oder älter, die einen Schlaganfall erlitten haben oder - wie >der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« - einen Gehirntumor haben. Capgras-Patienten hingegen sind häufiger Frauen, egal, welchen Alters (es gibt Fallbeschreibungen von Achtjährigen), und nicht immer ist von einem nachweisbaren Gehirnschaden die Rede. Dennoch hat sich gezeigt, dass Capgras-Patien-ten bei Versuchen zur Gesichtserkennung schlechter abschneiden als andere psychiatrische Patienten. Bei einem nach Benton benannten Test für Gesichtserkennung zum Beispiel haben sie mehr Mühe, bei Fotos von Unbekannten unterschiedliche Fotos derselben Person zuzuweisen. 1984 ergab eine Prosopagnosie-Untersuchung Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem Capgras-Syndrom.
Der britische Neurologe Bauer entdeckte, dass Prosopagnostiker bei bekannten Gesichtern noch autonome Reaktionen zeigen. 29 Bei der Präsentation von Fotos verändert sich beim Anblick vertrauter Personen der Hautwiderstand des Patienten - in derselben Einheit gemessen, die bei Lügendetektoren üblich ist -, nicht aber beim Anblick unbekannter. Das Ergebnis dieses >Guilty Knowledge Test< schien darauf hinzudeuten, dass es noch ein anderes Erkennungssystem gibt. Bauer erklärte dies so: Die Gesichtserkennung verlaufe möglicherweise entlang zweier unabhängiger Wege im Gehirn. Die erste Strecke übernehme die Identifikation des Gesichts und führe zur bewussten Erkennung, die zweite Strecke übernehme auf unbewusster Ebene die Kopplung mit der emotionalen Bedeutung des Gesichts. Bei Prosopagnostikern sei der erste Weg gestört und nur die autonomen Reaktionen verrieten noch, dass das Gesicht an anderer Stelle im Gedächtnis erkannt werde, jedoch unerreichbar für das Bewusstsein.
Die beiden britischen Neuropsychologen Hadyn Ellis und Andrew Young haben 1990 die elegante Hypothese formuliert, das
Capgras-Syndrom sei womöglich das Spiegelbild von Prosopagnosie: 30 Wenn die erste Strecke noch intakt sei, so dass der Patient bewusst Gesichter erkenne, der zweite Weg aber aufgrund einer neurologischen Beschädigung gestört sei, könne der Patient das erkannte Gesicht nicht mehr mit der emotionalen Bedeutung verbinden, die dieses Gesicht einst für ihn hatte. Weil gerade bei den Menschen, die einem am nächsten standen, die Diskrepanz zwischen gefühlloser Erkennung und dem Fehlen jeglicher Vertrautheit am größten sei, würden vor allem Ehepartner, Eltern und Kinder für Doppelgänger gehalten.
Mit dieser Theorie lässt sich eine überprüfbare Prognose stellen. Wenn jene zweite Strecke beschädigt ist, wird der Capgras-Pa-tient bei bekannten Gesichtern gerade nicht die autonomen Reaktionen zeigen, die bei einem Prosopagnostiker auftreten. Versuche mit dem Guilty Knowledge Test haben dies bestätigt. Das Gesicht wird zwar erkannt, aber es scheint nicht mehr die frühere emotionale Bedeutung hervorzurufen, ln einem weiteren Experiment überprüfte Ellis Josephs Hypothese, das Capgras-Syndrom beruhe auf dem Unvermögen, die beiden Repräsentationen der linken und rechten Gehirnhälfte zu integrieren. Er ließ eine Versuchsgruppe von drei Capgras-Patienten auf eine Leinwand blicken, auf die 200 Millisekunden lang jeweils zwei Gesichter projiziert wurden. Der Auftrag lautete, jeweils anzugeben, ob es sich um dieselben oder unterschiedliche Gesichter handle. Die Kontrollgruppe bestand aus drei paranoiden Patienten, die in allen relevanten Eigenschaften den Capgras-Patienten entsprachen. Die Capgras-Pa-tienten konnten diesen Auftrag etwas schneller ausführen als die Kontrollgruppe. Josephs Hypothese würde gerade eine längere Reaktionszeit Vorhersagen.
Die Argumentation von Ellis und Young entspricht in einem entscheidenden Punkt genau der von Capgras und Reboul-La-chaux aus dem Jahr 1923. Beide Male ist der Patient nicht mehr in der Lage, das erkannte Gesicht mit der Vertrautheit von früher zu verbinden. Der dadurch entstehende Konflikt löst die argwöhnische Annahme aus, es müsse sich um einen Doppelgänger handeln, und ist damit tatsächlich eine Kreation der >logique des emo-tions<. Ellis und Young fügen dem die
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