Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
normale Intelligenz. Sie zeigen keinerlei neurologische oder psychiatrische Abweichungen. C. B. ist ihr einziges Kind. Die Erziehung hat ihre Ehe schwer belastet. Momentan wohnen sie getrennt.
Fallbeschreibungen dieser Art sind im DSM-IV Casebook 1 zu finden. Mit den Abweichungen von C. B. gelangt man schnell ins Autismus-Spektrum: die fehlende Einsicht in die Emotionen anderer, die monomanen Interessen, die geringe Toleranz für Veränderungen, der Widerwille, berührt zu werden. Seine normale Intelligenz und das Fehlen einer starken Sprachstörung würden ihn, inmitten der unterschiedlichen Autismusformen, schließlich als einen Jungen mit dem Asperger-Syndrom charakterisieren.
Bloß: C.B. stammt nicht aus dem Casebook. Sein Fall ist dem Buch The curious incident of the dog in the night-time von Mark Haddon entnommen. Leser dieses Romans werden ihn bereits erkannt haben. 2 Die Initialen stehen für Christopher Boone. (Die deutsche Übersetzung nimmt den Namen gleich in den Titel auf: Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone.) Zu Beginn des Buches ist er »fünfzehn Jahre und drei Monate und zwei Tage« alt. Christopher erzählt dies einem Polizisten, der gemeinsam mit ihm mitten in der Nacht neben dem Pudel der Nachbarin von gegenüber hockt, der grausam mit einer Mistgabel in den Rasen gebohrt wurde. Der Roman handelt von der Aufklärung dieses feigen Mordes, erzählt und erlebt von Christopher.
Wer Haddons Roman liest, erlebt etwas, das sich beim Lesen eines Asperger-Falles im Casebook oder der casebookartigen Beschreibung hier oben nicht ergibt. Nach zehn, zwölf Seiten hat man das Gefühl, allmählich in Christophers Geist hineinzugleiten. Nach weiteren zehn Seiten ist man in einer Innenwelt angekommen, die zugleich bizarr und ordentlich, exotisch und logisch, exzentrisch und geradlinig ist. Mit jeder weiteren Seite des Buches beginnt man, die Welt mit seinen Augen zu sehen und die Informationen mit seinem Gehirn zu verarbeiten. Eines der Paradoxe dieses wunderbaren Buches ist, dass man allmählich das Innenleben eines Menschen kennen lernt, der kein Bewusstsein für das Innenleben anderer hat. Als Leser rutscht man in die Ich-Perspek-tive eines Menschen, der selbst nur aus der Perspektive der dritten Person heraus handeln kann. Am Ende wird man den Eindruck nicht los, etwas Unmögliches erlebt zu haben, als habe man für einen Moment die Rückseite des Mondes gesehen.
Das Asperger-Syndrom ist nach dem Wiener Kinderarzt Hans Asperger (1906-1980) benannt. Was Haddon mit Christopher so gut gelungen ist, nämlich zu zeigen, wie ein autistischer Mensch auf das reagiert, was er erlebt, ist dem sehr ähnlich, was Asperger mit den Fallstudien beabsichtigte, die er 1943 verfasste.
»SCHWIERIGE KINDER«
Die Geschichte des Autismus beginnt mit einer Reihe von Zufällen. 1943 beschrieb der Arzt Leo Kanner ein neues psychiatrisches Syndrom. Er leitete die Klinik für Kinderpsychiatrie der Johns Hopkins University in Baltimore und hatte bei verschiedenen Kindern eine Störung bemerkt, die er >early infantile autism< nannte. 3 Kern des Syndroms war eine schwere Kontaktstörung. Im selben Jahr reichte Hans Asperger den Bericht über seine Untersuchung eines Syndroms ein, das nun seinen Namen trägt und im Kern ebenfalls von >Autismus< handelt. Kanner und Asperger schrieben vollkommen unabhängig voneinander. Sie sind sich nie begegnet. Dennoch wählten sie zur Charakterisierung der Störung den gleichen Begriff, beide machten dafür Anleihen bei dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler. Die Kinder, die sie in ihren Fallstudien beschreiben, ähneln einander so sehr, dass es bis zum heutigen Tag fraglich ist, ob überhaupt von zwei verschiedenen Syndromen gesprochen werden kann. 4
Noch kurioser ist angesichts dieser Parallelität, was dann geschah. Nachdem Kanner seine Beschreibung veröffentlicht hatte, entdeckte man in allen psychiatrischen Anstalten und pädiatrischen Kliniken Kinder, die seiner Beschreibung von Autismus entsprachen: Ein Syndrom, das zuvor niemand bemerkt hatte, erwies sich als alles andere als selten. Das festigte Kanners Ruf als Entdecker eines neuen psychiatrischen Krankheitsbildes. Was auf Aspergers Veröffentlichung folgte, ist schnell erzählt: nichts. Bis Anfang der Achtzigerjahre sind die Hinweise auf sein Werk buchstäblich an einer Hand abzuzählen. Das änderte sich erst, als die britische Autismus-Spezialistin Lorna Wing vorschlug, die von Asperger beschriebene Störung
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