Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Stimme interpretieren muss, und dieses Wissen wird vollkommen unbewusst erworben. Fritz scheint die Fähigkeit zu fehlen, über Ausdrucksformen Zugang zu anderen zu bekommen. Ein Zeichen hierfür ist, dass auch seine eigenen Ausdrucksformen schon so anders sind. Sein Blick weicht aus, seine Stimme klingt seltsam, seine Motorik und seine Sprache unterscheiden sich. Es ist daher eigentlich nicht so erstaunlich, dass er die Ausdrucksformen anderer nicht versteht.
Umgekehrt kann sich niemand in Fritz einfühlen. Man weiß nicht, warum er fröhlich lacht oder herumhüpft, nicht, warum er auf einmal böse wird oder warum er ein Kind zu schlagen anfängt. Seine Gefühle stehen in keinerlei Beziehung zur Situation und seine Stimmungswechsel sind so abrupt, dass man kaum Kontakt zu ihm bekommen kann. Liebkosungen haben einen gegenteiligen Effekt, Zärtlichkeit scheint ihn zu ärgern.
Damit sind im Grunde auch die normalen Instrumente von Erziehung und Unterricht unbrauchbar. Ohne Kontakt zum Gefühlsleben hat nichts von dem, was sich in dem Spektrum zwischen einer freundlichen Bitte und einer wütenden Drohung bewegt, irgendeine Auswirkung auf das Verhalten. Asperger empfiehlt daher auch, Anweisungen »mit abgestelltem Affekt« zu geben - nicht böse, nicht freundlich, so emotionslos wie möglich. 16 Man hatte gute Erfahrungen mit Anweisungen gemacht, die in einem automatenhaften, stereotypen Ton gegeben wurden. Es schien, als könne sich Fritz, der in dieser Hinsicht gerade sehr beeinflussbar war, keinen Aufforderungen widersetzen, die ihm von einer Art Maschine befohlen wurden.
So gestört seine Konzentration oft auch wirkte - aus dem auf ihn zugeschnittenen, individuellen Unterricht schaffte es Fritz, so viel Lernstoff aufzunehmen und zu verarbeiten, dass er nicht allzu weit hinter seinen Altersgenossen zurückblieb. Das war ein Aspekt, der Asperger faszinierte: wie jemand mit einer so schweren Störung sozusagen aus den Augenwinkeln seine Umwelt doch noch wahrnehmen konnte. Solche Jungen haben, »was man oft nur per Zufall erfährt, ein ungewöhnlich reiches inneres Erleben, ein gutes logisches Denken und eine besonders gute Abstraktionsfähigkeit. Ja, man hat oft den Eindruck, dass auch bei einer ganz normalen Persönlichkeit eine verstärkte Distanz zur Umwelt geradezu die Voraussetzung für eine gute Abstraktion ist.« 17
Nach Fritz folgt Harro L., acht Jahre, genauso impulsiv und aggressiv wie Fritz, und motorisch genauso ungeschickt. Auch er hat den abwesenden Blick, das Lachen, das niemand versteht, die seltsamen Antworten: »Glas ist durchsichtig. Holz, wenn man da durchschauen will, muss man ein Loch machen.« 18 Auch sein >Sonderinteresse< ist das Rechnen, für das er selbst Systeme entwickelt hat, die vollkommen von den üblichen abweichen und so originell, aber auch häufig so kompliziert sind, dass er dadurch doch wieder Fehler macht. Die normalen, viel einfacheren Methoden sind ihm nicht beizubringen. Bei Harro ist es der Vater, der als Sonderling gilt: Er hat mit niemandem Kontakt und hat seinen Traum, Kunstmaler zu werden, gegen den Beruf des Bürstenmachers eingetauscht. Auf der Station meidet Harro andere Kinder. Er liest viel und ist dann von seiner Umwelt vollkommen abgeschlossen. Sein verbales Ausdrucksvermögen ist seinem Alter voraus, wie das eines Erwachsenen: Er erzählt gern lange, fantastische Geschichten, die allmählich jeden Zusammenhang verlieren.
Der Fall des siebenjährigen Ernst K. passt nach Fritz und Harro bereits in das sich abzeichnende Muster: Er erträgt keine anderen Kinder, macht Szenen, wenn nicht alles genau so läuft, wie er es will oder gewohnt ist, er ist motorisch so ungeschickt, dass man ihm bei den einfachsten Handlungen - anziehen, essen - helfen muss. Auch Ernst rechnet nach eigenen Methoden. Sein Blick huscht an Gegenständen und Menschen entlang, ohne irgendwo hängen zu bleiben, seine Stimme ist hoch und nasal und klingt laut Asperger so, wie man gewöhnlich degenerierten Adel imitiert. Auch er hat einen Sonderling zum Vater. Genau wie Fritz ist er schlaksig und hat feingeschnittene Gesichtszüge.
Asperger präsentierte noch einen vierten Fall, den elfjährigen Hellmuth L., aber der sollte eher demonstrieren, dass Hirnschäden Verhaltensabweichungen verursachen können, die denen der Jungen aus den ersten drei Fallbeschreibungen ähneln. Bei Hellmuth war die Schädigung durch Sauerstoffmangel während der Geburt entstanden. Auch bei ihm gab es den abwesenden
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