Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
darum zu kümmern, ob er andere Kinder damit gefährdete. In der Klinik fällt auf, dass er zu niemandem affektive Beziehungen knüpft. Andere Kinder erträgt er nicht. Er macht sich nichts daraus, ob jemand auf ihn böse ist, er scheint es sogar zu provozieren. Erwachsene mit >Sie< anzusprechen, hat er nie gelernt, alle sind >du<.
Fritz’ Mutter stammt aus der Familie eines der größten österreichischen Dichter. Die Familie zählt einige exzentrische Gestal-
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ten, fast ausschließlich Intellektuelle, der Mutter zufolge allesamt vom Typ »genial verrückt«. 11 Der Großvater hatte seinerzeit mit denselben Problemen zu kämpfen wie Fritz und hatte damals auch die Schule verlassen müssen. Fritz ähnelt seiner Mutter. Asperger hatte die beiden einmal gemeinsam an der Klinik Vorbeigehen sehen: »die Mutter stakt dahin, scheinbar von der Welt nichts sehend, die Arme auf dem Rücken verschränkt, daneben macht der Knabe seinen Unfug, rennt ab und zu - es hat ganz den Anschein, als hätten die beiden gar nichts miteinander zu tun«. 12 Die Mutter wirkt ungepflegt. Wenn es ihr zu Hause zu viel wird, lässt sie von einem Moment auf den anderen die Familie im Stich und zieht für eine Woche in die Berge. Fritz’ Vater ist ein hoher Beamter. Auch für ihn kann Asperger nicht viel Sympathie aufbringen: Er ist übertrieben korrekt, pedantisch, reserviert.
Fritz selbst ist groß für sein Alter, er hat einen schlaksigen, motorisch ungeschickten Körper. Sein Gesicht hat auffällig feine Züge, Asperger nennt sie »prinzenhaft«. 13 Sein Blick ist leer und streicht kurz und abwesend über Menschen und Gegenstände. Seine Stimme ist fein und hoch, sie klingt wie von fern mit einer seltsam singenden Intonation. Er spricht langsam und zieht einzelne Laute besonders in die Länge. Nur selten ist das, was er sagt, eine Antwort auf die jeweilige Frage. Manchmal wiederholt Fritz die Frage oder ein Wort aus der Frage. Er hat ein merkwürdiges Verhältnis zu Geräuschen - er wirft mit Spielzeug, weil er das Geräusch zu genießen scheint, manchmal schlägt er sich plötzlich rhythmisch klatschend auf die Schenkel, auf einen Tisch, gegen eine Wand, manchmal - als wäre es ihm einerlei - schlägt er ein anderes Kind. Das Paradoxe an seinem Verhalten ist, dass seine impulsiven Handlungen immer wieder so unangenehm, schmerzhaft oder gefährlich sind, dass er offensichtlich sehr wohl weiß, was unangenehm ist, während er gleichzeitig den Eindruck macht, von seiner Umgebung überhaupt keine Notiz zu nehmen. Er sitzt nur ein wenig herum, abwesend, schläfrig, und springt auf einmal auf, um blitzschnell die Tassen vom Tisch zu wischen oder einem Kind eine Ohrfeige zu versetzen.
Eine ähnliche Eigenart äußert sich, wenn man ihn testet. Bei einem der Tests soll er ein geometrisches Muster aus Stäbchen nachlegen. Er streift das Beispiel scheinbar nur mit einem halben Blick, legt jedoch in wenigen Sekunden das richtige Muster, akkurater, als es seine Altersgenossen können. Andere Dinge sind kaum zu testen. Er lässt sich vom Stuhl fallen, schlägt den Prüfungsleiter auf die Hand, gibt unsinnige Antworten. Gefragt nach dem Unterschied zwischen Glas und Holz, antwortet er: »Weil das Glas viel gläserner ist und das Holz viel hölzerner.« 14
Nur bei Zahlen und beim Rechnen läuft es gut. Er kann sechs Ziffern auswendig nachsprechen, was gemäß der Prüfungsmethode von Binet den Fähigkeiten eines zehnjährigen Kindes entspricht. Wie fast alle Kinder dieses Typs, schreibt Asperger, habe Fritz eine einzige spezifische Begabung, ein >Sonderinteresse<, und bei ihm sei das das Rechnen. 15 Er hat sich selbst beigebracht, bis 100 zu zählen, und in diesem Zahlenraum kann er sich sehr gut bewegen, nicht nur bei den ganzen Zahlen, sondern auch bei den Brüchen Fritz kann sich selbst die Frage stellen, was mehr ist, 1/16 oder 1/18, und auch die richtige Antwort darauf geben. Jemand hatte ihn spaßeshalber gefragt, was 2/3 von 120 sei, und bekam sofort die Antwort: 80. Kein Wunder, dass Urteile über solche Kinder von Wunderkind bis schwach begabt reichen.
Bei Fritz mochte diese isolierte intellektuelle Fähigkeit zwar intakt sein, erklärt Asperger, sein Gefühlsleben sei jedoch schwer gestört. Ein »normales Kind< - die Anführungszeichen stammen von Asperger - lernt schon, bevor es Worte versteht, den Blicken, Gebärden und dem Ton von Vater oder Mutter zu gehorchen. Es lernt, wie es die Ausdrucksformen von Gesicht, Körper und
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