Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Sechzigerjahren, die Aufmerksamkeit auf Aspergers Werk zu lenken. Bereits 1971 schrieb er in einem englischsprachigen Artikel von dem >Asperger-Syndrom<, aber es gelang ihm nicht, dieses Eponym durchzusetzen. 33
Hans Asperger starb 1980 im fünfundsiebzigsten Lebensjahr, ein halbes Jahr später gefolgt von Leo Kanner. Aspergers Laufbahn war voll von Vorlesungen, Beratungen und Beobachtungen gewesen, von Runden durch die Station, von Berichten und Sprechstunden. Auch nach seiner Emeritierung 1977 war er als Autor aktiv und noch 1979 sprach er auf einem Schweizer Kongress über das Leiden, das er Anfang der Vierzigerjahre beschrieben hatte. Von einem >Asperger-Syndrom< war damals noch keine Rede. Der Artikel von Lorna Wing, der seinen Hans Asperger (1906-1980). Namen lancieren sollte, denn so kann man das getrost nennen, erschien exakt ein Jahr nach seinem Tod.
EISIGE MÜTTER
Wissenschaftler, die meinen, dass Asperger und Kanner zwei unterschiedliche Syndrome identifiziert haben, nennen oft Merkmale, die van Krevelen schon 1971 spezifiziert hat - wenn auch ohne auf ihn zu verweisen. Beim Autisten vom Kanner-Typus zeigt sich die Abweichung schon bald nach der Geburt. Die Entwicklung der Sprache bleibt meist aus. Beim Asperger-Autisten werden die Abweichungen meist erst im zweiten oder dritten Lebensjahr bemerkt, und das Kind spricht, bevor es läuft. Die Sprache ist zwar auf Kommunikation ausgerichtet - die allerdings eine Einbahnstraße ist - und hat durch die >altkluge< Wortwahl manchmal etwas Pedantisches. Asperger-Kinder werden von ihrer Umgebung auch bisweilen »kleine Professoren« genannt, Kanner-Kinder nie. In Bezug auf den Augenkontakt scheinen bei Kanner-Kindern andere Menschen nicht zu existieren; das Asper-ger-Kind weicht dem Augenkontakt aus. Asperger-Kinder haben eine bessere soziale Prognose. Von van Krevelen stammt eine Formulierung, die viele der Unterschiede zusammenfasst. Er schrieb: Kanner-Autisten leben in ihrer eigenen Welt und Asperger-Autisten leben in unserer Welt auf ihre eigene Weise.
Beide Syndrome hält man heutzutage für eine Störung mit neurobiologischem Ursprung, auch wenn über Art, Lokalisierung und Ursache des Defekts noch nicht einmal annähernd Konsens erzielt wurde. Asperger verwies mit seinem Fall Hellmuth L. auf Gemeinsamkeiten zwischen Verhaltensfolgen bei Hirnschäden, die während der Geburt entstanden, und manchen Autismus-Symp-tomen, aber er merkte auch an, dass bei seinen ersten drei Jungen keinerlei Hinweise auf eine zerebrale Abweichung zu finden gewesen seien. Die Hirnforschung des letzten halben Jahrhunderts zeichnet ein diffuses Bild. 34 Im Durchschnitt sollen autistische Kinder ein etwas größeres Hirnvolumen besitzen. Möglicherweise gibt es Abweichungen in der Produktion und dem Abbau von Serotonin, einem Neurotransmitter. Die Neuronen im Hippocampus scheinen weniger zahlreich und verästelt. Subtile Abweichungen im Cerebellum sollen für die motorische Ungeschicklichkeit verantwortlich sein. Die Ausführung bestimmter Aufgaben, wie das Erkennen von Gesichtern, scheint ein anderes Muster der Aktivierung in verschiedenen Hirngebieten aufzurufen als bei nicht autistischen Kindern. Nur wenige Forscher zweifeln daran, dass Autismus letztendlich einer angeborenen Entwicklungsstörung des Gehirns zugeschrieben werden kann, aber eine genaue Identifizierung dieser Störung ist bislang ausgeblieben.
Diese Lücke in der Theoriebildung ließ in den Fünfzigerjahren viel Raum für Spektdationen, die vor allem auf die Mütter autistischer Kinder eine verheerende Auswirkung hatten. Es war sowohl Asperger als auch Kanner aufgefallen, dass autistische Kinder häufig intellektuell orientierte Eltern hatten. Asperger ließ die Art dieses Zusammenhangs offen; dieser schien auf einen genetischen Faktor hinzuweisen, aber wie die Vererbung vor sich ging und ob sie über die männliche oder die weibliche Linie verlief -oder eine Kombination aus beiden -, konnte er nicht sagen. Dafür fehlten ihm schlichtweg die Daten. Kanner verfügte ebenso wenig über solche Angaben, aber er war davon überzeugt, dass der Autismus des Kindes eine natürliche Reaktion auf das Fehlen eines warmen, intuitiven Kontakts mit der Mutter war. Damit war die >refrigerator mother< geboren, ein rationales, kaltes Wesen, zu distanziert, um eine enge Beziehung zu dem Kind herzustellen. Diese Hypothese wurde mit der psychoanalytischen Auffassung verwoben, die Erfahrungen der ersten Jahre seien entscheidend
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