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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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finden, dass auch solche Menschen ihren Platz in dem Organismus der sozialen Gemeinschaft haben, den sie voll ausfüllen, manche vielleicht in einer Weise, wie das sonst niemand könnte - und das waren oft Kinder, die ihren Erziehern die größten Schwierigkeiten und die größten Sorgen bereitet haben. Gerade bei solchen Charakteren zeigt sich, wie entwicklungs- und anpassungsfähig auch abartige Persönlichkeiten sein können, wie oft Möglichkeiten einer sozialen Einordnung im Laufe der Entwicklung auftauchen, die man früher in den Menschen nicht vermutet hätte. Diese Tatsache bestimmt denn auch unsere Einstellung und unser Werturteil gegenüber schwierigen Menschen dieser und anderer Art und gibt uns das Recht und die Pflicht, uns für sie mit unserer ganzen Persönlichkeit einzusetzen, denn wir glauben, dass nur der volle Einsatz des liebenden Erziehers bei so schwierigen Menschen Erfolge erzielen kann.« 26
    Man bedenke: Dies wurde 1943 geschrieben. Im ganzen Deutschen Reich wurden Einrichtungen für »Geisteskranke« geräumt. 27
    ASPERGER UND KANNER
    Asperger führte mit seinem Bericht elegant seine methodologische Überzeugung vor. Bei seinen Beobachtungen versuchte er, wirklich ein Individuum auf sich wirken zu lassen. Gerade weil alle Einzelheiten ihres Tuns und Lassens bei der Spezifizierung ihrer Störung eine Rolle spielen, bleiben Fritz, Harro, Ernst und Hellmuth keine papiernen >Fälle<, sondern beginnen zu leben, kommen in Bewegung und haken sich als die schwierigen Kinder< im Gedächtnis des Lesers fest. Diese Jungen waren frech, querköpfig, aggressiv, gefährlich für andere Kinder. In dieser Charakterisierung wird sich wohl auch das pädagogische Klima einer österreichischen Klinik in den Dreißigerjahren spiegeln (als Beispiel für freches Verhalten nennt Asperger ein »Ich denke nicht daran!« als Reaktion auf eine Anweisung), aber es ist auch wahr, dass er eine fast überirdische Fähigkeit gehabt haben muss, um so-
    Zusagen durch ihr ärgerliches Verhalten hindurchzuschauen und dieses gerade als Manifestierung ihres Leidens zu sehen. Es hat etwas von einem Gestaltswitch, um in Aspergers psychologischer Atmosphäre zu bleiben: Für ihn waren Widerspenstigkeit, Impulsivität und Unzugänglichkeit nicht mehr die Eigenschaften eines nervigen Kindes, sondern die Merkmale einer schweren Störung.
    Über eine Erklärung für die Entstehung derselben ließ sich Asperger nicht aus. Dass ein erblicher Faktor mitspielte, stand für ihn fest, aber was genau die Störung dann verursachte und wie sie weitergegeben wurde, blieb auch ihm ein Rätsel. Es gibt ein paar Hinweise auf Theorien über Degeneration und den Zusammenhang zwischen Genialität und Wahnsinn. Asperger beschrieb Aussehen und Stimme einige Male als degeneriertem Adel< ähnlich, und tatsächlich nahm man in der damaligen Psychiatrie an, dass Geschlechter von einer auf die andere Generation in Krankheit, Alkoholismus und psychiatrischen Störungen versinken können. Auch die Theorie, besondere künstlerische oder wissenschaftliche Leistungen seien mit Eigenschaften gepaart, die dicht bei der Psychopathologie liegen, klingt in Aspergers Text an: Fritz’ Mutter beschrieb einige Familienmitglieder als »genial verrückt«, und dass das Leiden ihres Sohnes etwas von beidem in sich trug, scheint auch Aspergers Auffassung zu entsprechen.
    Auffällig ist auch das, was fehlt - nämlich jeglicher Einfluss eines - bis zu seinem von der Gestapo erzwungenen Weggang 1939 - immerhin prominenten Mitbürgers. Im Text findet sich nur ein missmutiger Abschnitt über die >Individualpsychologie< Adlers, eines Schülers von Freud: Dieser würde die Probleme autistischer Kinder wohl wieder aus der Tatsache zu erklären versuchen, dass sie - die häufig Einzelkinder waren - unzureichenden Kontakt mit Gleichaltrigen hatten. Die altkluge Wortwahl wäre dann die Folge des ausschließlichen Umgangs mit Erwachsenen. Asperger wollte von dieser Erklärung nichts wissen: »Wie in so vielen anderen Beziehungen verwechselt auch hier eine individual-psychologische Betrachtungsweise Ursache und Wirkung.« 28 Das Kind wurde nicht autistisch, weil es einziges Kind blieb, es blieb Einzelkind, weil die Eltern schon latent autistisch waren und mehr Kinder nicht in ihr Leben passten. (Mittlerweile haben Studien nachgewiesen, dass Kinder mit dem Asperger-Syn-drom nicht häufiger als andere Einzelkinder sind.) Die Psychoanalyse spielte überhaupt keine Rolle in Aspergers

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