Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Auffassungen über Autismus. Er wird in Freud auch keinen Kollegen gesehen haben: Asperger war Kinderarzt, kein Psychiater.
Als Asperger seinen Artikel veröffentlichte, war der von Kan-ner bereits in den USA erschienen. Der zwölf Jahre ältere Leo Kanner wurde 1894 in Klekotow geboren, das in der österrei-chisch-ungarischen Doppelmonarchie lag. 29 Anfangs wollte er Schriftsteller werden, entschied sich dann aber doch für eine Laufbahn in der Medizin. Er promovierte 1920 in Berlin mit einer Dissertation über Elektrokardiographie. Kanner war zum Teil in denselben deutschen akademischen Kreisen ausgebildet worden wie Asperger. Nach seiner Emigration nach Amerika machte er sich 1935 einen Namen mit Child psychiatry, dem Handbuch, das den Anfang der Kinderpsychiatrie markiert. 30 Kanner war auch Gründer und Direktor der Johns Hopkins Children’s Psychiatric Clinic.
In Baltimore hatte Kanner Kinder beobachtet, die viel Ähnlichkeit mit den von Asperger beschriebenen Jungen aufwiesen. Anhand von elf Fallstudien, acht Jungen und drei Mädchen zwischen zwei und acht Jahren, definierte er das klinische Bild des »klassischen Autistenc Es ist ein Kind, das nicht zu sozialem Kontakt oder Kommunikation in der Lage ist, stereotypes Verhalten an den Tag legt, einen Widerwillen vor Veränderungen und ein oder zwei obsessive Interessen hat. Kanner bemerkte auch einige spezifische Abweichungen, die in Aspergers Bericht fehlen: das >Papageien< (Echolalie) und die Neigung, >du< oder >er< statt >ich< zu verwenden. Umgekehrt hat Asperger auf Abweichungen hingewiesen, die Kanner nicht nannte: ihren seltsamen Blick, den merkwürdigen Klang und die Intonation der Stimme, das fehlende Gefühl für Humor und den pedantischen Sprachgebrauch.
Wer Kanners Fallstudien liest, stößt hier und da auf frappierende Übereinstimmungen mit denen Aspergers: Da gab es Donald, der mit fünf Jahren schon bis hundert zählte, sehr gut Dinge auswendig lernen konnte und mit Spielzeug um sich warf, weil ihn das Geräusch zu faszinieren schien, Virginia, die ängstlich Augenkontakt mied, George, der verloren hinter einer Mutter herlief, die in ihrer eigenen Welt versunken war und sich nicht ein Mal umschaute. Als die wissenschaftliche Kommunikation nach dem Krieg mit Korrespondenz und Kongressen wieder in Gang kam, hatten viele Kinderpsychiater, Kinderärzte und Sonderpädagogen, darunter auch Asperger selbst, den Eindruck, dass man in Baltimore und Wien denselben Störungstyp identifiziert hatte. Asperger hat dies später revidiert. Die Kinder, die Kanner beobachten konnte, sprachen kaum, und wenn sie Sprache benutzten, dann auf eine stereotype Weise und nicht als Instrument zur Kommunikation. Aspergers Kinder dagegen hatten einen frühreifen Sprachgebrauch und verfügten über einen umfänglichen Wortschatz. Ein weiterer Unterschied war, dass der Typ Kind, den Asperger beschrieb, eine normale oder höhere Begabung besaß. Kanners Kinder waren, wenn sie überhaupt getestet werden konnten, schwach begabt.
Vergleiche wie diese blieben übrigens sehr lange Zeit eine rein europäische Angelegenheit. Aspergers Text wurde erst 1991 ins Englische übersetzt, und auch in dem Teil der akademischen Welt, der zu deutschen Quellen Zugang hatte, blieb das Interesse an seiner Arbeit beschränkt. Nach Kanners erstem Artikel erschien eine lange Reihe von Folgestudien, die in führenden sonderpädagogischen und psychiatrischen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Seine Publikationen schoben sich wie eine Eklipse vor die Aspergers und damit hatten auch die papageienplappernden, flatterhaften Autisten des Kanner-Typus einen Vorsprung gegenüber den etwas altklug redenden Asperger-Autisten.
So ganz wurde Asperger übrigens nicht ignoriert. Denn wenn seine Arbeit irgendwo schon früh und positiv aufgenommen wurde, dann in den Niederlanden. 1949 war Asperger Gast auf dem zweiten Internationalen Kongress für Sonderpädagogik in Amsterdam. 31 Er hielt einen Vortrag über seine >autistischen Psychopathen«, der die führenden Persönlichkeiten in der ersten Generation niederländischer Kinderpsychiater und Sonderpädagogen, wie F. Grewel und J. J. Prick, davon überzeugte, dass hier von einem
Syndrom die Rede war, das sich tatsächlich von dem Kanners unterschied, ln dem 1954 erschienenen Sammelband lnfantiel au-tisme wird sein Werk ausführlich und mit Zustimmung zititert. 32 Der Leidener Kinderpsychiater van Krevelen versuchte - Ehre, wem Ehre gebührt - schon in den
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