Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
versprochener Kekse unterscheiden. Autistische Kinder scheinen sich nur schwer vorstellen zu können, dass ein Gegenstand nicht konkret vorhanden ist, sondern sich im Gedächtnis von jemandem befindet und dann noch immer Einfluss auf das Verhalten hat. Einen ähnlichen Unterschied fand Baron-Cohen bei der Frage: »Was macht dein Gehirn?« Kinder mit dem Down-Syndrom und Kinder im Alter von durchschnittlich fünf Jahren gaben Antworten, die auf mentale Aktivitäten hinwiesen: Mit dem Gehirn kann man denken, sich etwas merken, lernen, Dinge geheim halten. Die autistischen Kinder (im Durchschnitt vierzehn Jahre alt) nannten vor allem motorische, körperliche Funktionen: Das Gehirn sorgt dafür, dass man sich bewegen kann, rennen und schlafen. Für sie schien das Gehirn ein mechanisches Organ wie alle anderen zu sein.
Durch das Fehlen einer theory of mind leben Autisten in einer sozialen Welt, die von Personen mit einem unzugänglichen Inneren bevölkert wird, sie leben, mit anderen Worten, mitten unter
Menschen, die niemals auch ein >Ich< werden, sondern immer ein äußerlicher >Er< oder >Sie< bleiben. Auch diese Hypothese unterstellt also, dass autistische Kinder sich in einer sozialen Isolation befinden, aber die therapeutischen Empfehlungen, die sich daraus ergeben, sind vollkommen anders. Baron-Cohen entwarf ein Programm des >mind-reading<: ein explizites Lernen von Zusammenhängen, die sich ein normales Kind von selbst zu eigen macht, wie die zwischen Gesichtsausdrücken und Emotionen, Intonationen und Stimmungen, Körpersprache und Absichten. Die Perspektive der theory ofmincL findet sich heute in vielen diagnostischen Tests und Verhaltensbeobachtungen wieder, auch wenn sie eher eine genauere Charakterisierung des Defekts ist als eine Erklärung für die Ursache von Autismus.
ARME KATE
Autismus vom Kanner-Typ ist seit 1980 in das DSM-1II aufgenommen. Das Asperger-Syndrom tauchte 1994 zum ersten Mal im DSM-IV auf. Die Aufnahme beider Syndrome hat der Diskussion über ihr Wechselverhältnis kein Ende bereitet, sondern sie eher verschärft. Die Kriterien für die Diagnose »autistische Stö-rung< überlappen sich mit denen des Asperger-Syndroms. Entspricht ein Kind sechs oder mehr Kriterien für Autismus, folgt die Diagnose »autistische Störunge Um doppelte Diagnosen zu vermeiden, gibt das DSM den Benutzern die Anweisung, die Diagnose »Asperger-Syndrom< erst dann in Erwägung zu ziehen, wenn ein Kind weniger als sechs Autismuskriterien erfüllt und außerdem keinen Sprachrückstand aufweist. Durch dieses diagnostische Verfahren ist eine paradoxe Situation entstanden: Nach der neueren Analyse würden Fritz, Harro, Ernst und Hellmuth schon so vielen Kriterien für Autismus entsprechen, dass die Diagnose >Asperger-Syndrom< nicht mehr in Betracht käme. 41 Die Schlussfolgerung müsste also lauten, dass die Kinder, die Asperger selbst beschrieb, kein Asperger hatten. Manche Wissenschaftler sind der Ansicht, dieses Ergebnis beweise, dass es keinen wesent-liehen Unterschied zwischen beiden Krankheitsbildern gebe, andere argumentieren, das DSM sei offensichtlich nicht in der Lage, das Asperger-Syndrom so zu beschreiben, wie Asperger es meinte.
Diese Verwirrung wird nicht entstehen, wenn man das zum DSM-IV gehörende Casebook verwendet. Hierin ist ein Asperger-Fall aufgenommen, der alle Züge trägt, die Asperger beschrieben hat. Die Fallbeschreibung heißt >Cartographer< und ist demselben Artikel entnommen, in dem Lorna Wing das Eponym >Asperger-Syndrom< vorschlug. Die Hauptperson ist C. B., ein Junge von dreizehn Jahren. Er ist auf einer Sonderschule, kann gut auswendig lernen, hat ein paar monomane Hobbys, darunter Hochspannungsmasten, Verkehrsschilder und vor allem Landkarten. C. B. bewegt sich sozial ungeschickt, kann Abstraktionen nicht fassen und findet Witze sehr schnell unverständlich.
Die Diagnose >Asperger< wird in den letzten Jahren mit schnell zunehmender Frequenz gestellt, manchmal postum: Einstein, Bar-tok und Wittgenstein werden in diesem Zusammenhang häufig genannt. 42 Oliver Sacks machte mit Zitaten aus einer 1851 erschienenen Biographie plausibel, dass der englische Physiker Henry Cavendish am Asperger-Syndrom litt: »His brain seems to have been but a calculating engine; his eyes inlets of vision, not foun-tains of tears; his hands instruments of manipulation which never trembled with emotion . ,.« 43 Das Syndrom gehört allmählich zum allgemeinen medizinisch-psychiatrischen Wissensstand.
Weitere Kostenlose Bücher