Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
den Hemisphären. Sperry sollte 1981 dafür den Nobelpreis erhalten.
Die meisten Experimente mit >split brain<-Patienten finden in einer Laborumgebung statt. Gehirnhälften lassen sich nur unter sehr künstlichen Konditionen getrennt untersuchen. Visuelle Reize, die nur für eine der Gehirnhälften bestimmt sind, zum Beispiel die rechte, dürfen ausschließlich dem linken Gesichtsfeld beider Augen angeboten werden, und für hemisphärische Unterschiede in Reaktionen auf Geräuschreize werden dichotische Höraufgaben benötigt. Die Ergebnisse von >split brain«-Experi-menten haben zu einer spektakulären Rehabilitation der rechten Gehirnhälfte geführt. 19
Als Sperry, Gazzaniga und Bogen ihre Untersuchung begannen, assoziierte niemand mehr die rechte Hirnhälfte mit tierischem Verhalten, Instinkt, Anlage zum Verbrechen, weiblicher Impulsivität, Geisteskrankheit und all den anderen Eigenschaften, die ihr die Neurologie um 1900 zuschrieb. Die rechte Hemisphäre wurde mit nichts mehr assoziiert. Sie war zur »untergeordneten« oder »passiven«, im Englischen zur »inferior« oder »minor«, Hemisphäre geworden. Die Denkarbeit wurde von links verrichtet. Die rechte Hirnhälfte, fasste Henschen dass Allgemeinempfinden 1926 zusammen, sei möglicherweise nicht mehr als ein Reserveorgan. 20 Aber die »split brain«-Forschung ergab, dass die rechte Hemisphäre manche Aufgaben sogar noch etwas besser ausführt als die linke. Die meisten dieser Aufgaben haben mit der Verarbeitung räumlicher Muster zu tun, wie dem Erkennen von Gesichtern oder der gedanklichen Rotation von Formen. Die Interpretation von Gefühlen aus Gesichtsausdrücken und die Erkennung von Melodien geht rechts ein wenig besser. Die linke Hemisphäre unterstützt Aufgaben, die eine strikte lineare Ordnung in der Zeit verlangen, wie Sprachfunktionen oder Rhythmus in der Musik. Bis auf die Verarbeitung von Sprache sind die Unterschiede zwischen den Kapazitäten der linken und der rechten Hemisphäre übrigens minimal. Behauptungen wie »Emotionen befinden sich rechts« oder »Logik ist links« werden durch nichts gestützt, es ist immer wieder eine Sache des etwas größeren Anteils in der Verarbeitung. Den zurückhaltendsten Forschern auf dem Gebiet der hemisphärischen Spezialisierung ist es schon zu irreführend, von >Spezialisierung< zu sprechen: Die rechte Hemisphäre sei lediglich deswegen bei manchen Aufgaben ein wenig besser, weil die linke Hemisphäre, die schon mit Sprache belastet sei, etwas an Kompetenz eingebüßt habe. 21 Anders als die linke Hemisphäre habe die rechte keine speziellen Talente.
1969 schrieb Joseph Bogen eine dreiteilige Artikelreihe unter dem Titel »The other side of the brain«. 22 Der erste Artikel behandelte noch die >normalen< neurologischen Themen wie die Folgen des Balkendurchtrennens für das Schreiben oder das Kopieren von Figuren, aber in den beiden folgenden Artikeln steckte er einen weiteren Rahmen ab. Die linke Hemisphäre charakterisierte Bogen als »propositionell« - ein Begriff von Hughlings Jackson, der ausdrückte, dass die linke Seite in Sprache denkt und für den verbalen Ausdruck sorgt. Die rechte Hemisphäre kennzeichnete Bogen als »appositionell«, zuständig für eine Form von Denken und Erleben, die räumlich und intuitiv ist. Die Unterschiede waren nicht absolut, sondern graduell, sie bildeten ein Verhältnis: die A/P-Ratio. Abhängig von der persönlichen A/P-Ratio neigt nach Bogen jemand - auch ohne durchtrennten Balken - zu >linkshirnigem< oder aber >rechtshirnigem< Denken. >Propositionell< und >appositionell< verwandte Zweiteilungen waren: atomistisch gegenüber global, abstrakt gegenüber konkret, nacheinander gegenüber gleichzeitig, digital gegenüber analog, analytisch gegenüber synthetisch. 1972 beteiligten sich drei Soziologen an einem vierten Teil von »The other side of the brain«. Sie gaben damit der A/P-Ratio eine breitere gesellschaftliche Bedeutung. 23
Die Neigung, mehr mit der einen als mit der anderen Hemisphäre zu denken, so die Autoren, könne die Folge früher kultureller Einflüsse sein, ln Gesellschaften, die Kinder intensiv Lesen, Schreiben und Grammatik lehrten, herrsche ein linkshirniger, pro-positioneller Denkstil vor, in analphabetischen Gesellschaften mit anderen Unterrichtsformen, beispielsweise bezüglich der räumlichen Fähigkeiten, entstehe ein appositioneller Denkstil. Auf diese Weise könne eine A/P-Ratio nicht nur von Individuen, sondern von ganzen
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