Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Patienten mit der Gage-Matrix sei möglicherweise die Mechanik defekt, die ihre Überlegungen mit einem somatischen Marker versehe. Wenn sie ihre Optionen taxierten, müssten sie dies ohne die Ermutigung eines angenehmen oder die Warnung eines unangenehmen Gefühlswertes tun. Sie begeben sich in riskante Abenteuer, von denen sie früher ein ziehendes Gefühl in der Magengegend abgehalten hätte.
Auch außerhalb des an sich schon großzügig gezogenen Kreises der Patienten mit Gage-Matrix sieht Damasio Symptome, die er dem Fehlen somatischer Marker zuschreibt. So soll die kühle Gleichgültigkeit von Soziopathen und Psychopathen mit Störungen in der Markermechanik zu tun haben, wodurch sie >kaltblütig< die grausamsten Verbrechen begehen können, oft auch zum eigenen Nachteil. Letzteres ist ein wichtiger Punkt in Damasios Argumentation: Die uneingeschränkte Egozentrik von Menschen, deren somatische Marker nicht funktionieren, lässt sie Entscheidungen treffen, die auf längere Sicht verderbliche persönliche Konsequenzen haben. Gerade das Fehlen von Emotionen verleiht ihren Entscheidungen einen so sonderbar irrationalen Charakter. Nach Damasio kann übrigens auch eine »kranke Kultur« den Markermechanismus außer Betrieb setzen, sogar bei ganzen Bevölkerungsgruppen gleichzeitig, und zwar mit fatalen Folgen. 29 Damasio verweist in diesem Zusammenhang auf China vor der Kulturrevolution und Kambodscha während des Pol-Pot-Regimes. Das ist eine neuropolitische Analyse, die an die staatskundlichen Randbemerkungen von Hughlings Jackson erinnert und - wiederum - zu intellektuellem Unbehagen führt. Auf jeden Fall entfernt sich Damasio nun doch sehr weit vom präfrontalen Cortex, egal, ob links oder rechts, unten oder oben, vorn oder hinten.
DESCARTES’ TRAUM
Aber was war denn nun genau Descartes’ Irrtum ? Darauf geht Damasio erst ganz zum Schluss ein. Eigentlich handelt es sich sogar um zwei Irrtümer. Der erste Irrtum Descartes’ liegt in seinem co-gito ergo sum begründet. Diese Behauptung: ich denke, also bin ich, drückt für Damasio genau das Gegenteil seiner eigenen Auffassung aus: Während Descartes meint, das Sein oder die Existenz folge aus dem Denken, ist es für Damasio biologische Realität, dass das Sein dem Denken vorausgeht. Schon vor Beginn der Menschheit gab es »seiende« Wesen. Erst spät in der Evolution entwickelten Organismen sich zu denkenden Wesen: Wir begannen also mit dem Sein und dachten später. 30 Den zweiten Irrtum Descartes’ umschreibt Damasio als die abgrundtiefe Trennung von Körper und Geist - und in Konsequenz »in der Behauptung, dass Denken, moralisches Urteil und das Leiden, das aus körperlichem Schmerz oder seelischer Pein entsteht, unabhängig vom Körper existieren«. 31 Es gibt auch noch einige weitere kleine Irrtümer, wie etwa Descartes’ Wiedergabe des Blutkreislaufs, und spätere Irrtümer, denen Descartes Vorschub geleistet habe, wie die mechanistische Ausrichtung der westlichen Medizin oder die Auffassung, Geist und Gehirn verhielten sich wie die Software und Hardware eines Computers, aber diese sind für Damasio vollkommen unbedeutend, verglichen mit dem dramatischen Irrtum des cogito ergo sum.
Hätte Descartes zur Kenntnis nehmen können, was Damasio ihm so alles vorwirft, hätte er wahrscheinlich erstaunt -oder verächtlich? - eine Augenbraue hochgezogen, wie er es auf dem Porträt, das Edelinck von ihm gravierte, schon zu tun scheint. Dazu hätte er auch allen Grund. Aber das verlangt nach einer Darstellung von Descartes - nicht seiner Irrtümer, sondern seiner Visionen. 32
Rene Descartes. Stich von Edelinck.
Rene Descartes träumte den berühmtesten Traum in der Geschichte der Philosophie am Vorabend von Sankt Martin, in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1619. Descartes war damals dreiundzwanzig Jahre alt. Er hatte gerade seinen Dienst im Heer von Prinz Moritz beendet und war jetzt als Söldner im Dienst des Herzogs von Bayern. Die Armee hatte ihr Lager in der Stadt Ulm aufgeschlagen, am Ufer der Donau. Der Winter war in diesem Jahr früh eingebrochen und die Kriegshandlungen waren zum Stillstand gekommen. Descartes hatte sich einige Wochen lang ohne Ablenkung seinen Studien widmen können.
Früh an diesem Abend des 10. November, nach wiederum einem langen Tag intensiver Konzentration, hatte er das Gefühl, die Essenz seiner »Methoden« gefunden zu haben, durch mathematische Beweisführung inspirierte Leitsätze, deren man sich auch in der
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