Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
mehrheitlich keine Philosophie, und die Philosophen, die Damasio gelesen haben, sind wahrscheinlich vom Titel aufgeschreckt worden. Die Aufnahme eines Eponyms in das wissenschaftliche Vokabular hängt von ganz anderen Faktoren ab. Einen Namen vorschlagen ist eins, dafür sorgen, dass er anschließend in der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptiert wird, verlangt Überzeugungskraft, Bündnispartner und auch eine gewisse Macht an der Seite desjenigen, der dieses Eponym vorschlägt. Unterschiedliche Bedingungen, welche die Chance auf Annahme eines Eponyms erhöhen, sind mit der Person Damasios selbst verbunden. Damasio hat einen großen Ruf auf dem Gebiet präfrontaler Schädigungen. Er leitet zugleich auch das prestigeträchtige Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Kalifornien, und sein Werk ist in viele Sprachen übersetzt. Faktoren wie diese verschaffen ihm eine gute Ausgangsposition. Dass nach der Einführung eine heftige Diskussion über die Frage entbrannte, ob dieses Eponym ein abgegrenztes Muster neurologischer und verhaltensmäßiger Abweichungen erkennen lässt, ist kein Hindernis - das passiert bei vielen Eponymen. Auch bei Parkinson, Gilles de la Tourette und Alzheimer sind Kontroversen über die Grenzen des Krankheitsbildes entstanden. Keine Diskussion - das ist fatal. Diese Phase hat die Gage-Matrix hinter sich. Verschiedene Rezensenten fragten sich, ob die Grenzen dieses Eponyms nicht viel zu elastisch seien, um wirklich in der neuro-psychiatrischen Theoriebildung von Nutzen zu sein. 51 Der ironische Effekt dieser öffentlichen Skepsis ist, dass damit die Einführung der Gage-Matrix eher erleichtert als blockiert wurde. Der neue Begriff wird erst eine gewisse Verbreitung erfahren müssen, und Kritik ist dabei genauso hilfreich wie Zustimmung. Ob die Gage-Matrix als Fachbegriff letztendlich akzeptiert werden wird, ist erst in zwanzig oder dreißig Jahren bei der Durchsicht der Handbücher von Neurologen und Psychiatern festzustellen.
Phineas Gages Biograph hat mittlerweile dafür gesorgt, dass man des hundertfünfzigsten Geburtstags des »horrible accident« gebührend gedachte. 1998 organisierte Macmillan in Cavendish ein john Martyn Harlow Frontal Lobe Symposium. Bei dieser Gelegenheit wurde in Anwesenheit von Edward Williams IV., dem Ururenkel von Doktor Williams, dem ersten Arzt, der Gage zu Hilfe eilte, eine Gedenktafel mit dem Porträt von Gage, einer Chronologie seines Lebens und einer Zeichnung der Verletzung an seinem Schädel enthüllt. 52
DAS SCHWEIGEN VON MONSIEUR TAN DAS BROCA-ZENTRUM
Wie Kolumbus befand sich der Entdecker des Broca-Zentrums im Ungewissen darüber, was genau er entdeckt hatte. Dabei schienen die anatomischen Befunde eindeutig. Im Pariser Bicetre-Kranken-
haus, in dem Broca als Chirurg arbeitete, starb im April 1861 ein Mann, der sein Sprachvermögen verloren hatte. Bei der Autopsie dieses Gehirns entdeckte Broca eine schwere Schädigung an der Unterseite des linken Frontallappens. Ein Teil des Hirngewebes war nicht mehr vorhanden, und das, was noch von ihm übrig war, wies eine breiige Struktur auf. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand: Offensichtlich war ein bestimmter Gehirnbereich an der Spracherzeugung beteiligt. In vielen neurologischen Handbüchern werden die Vorgänge etwa folgendermaßen rekonstruiert: Broca entdeckte einen Zusammenhang zwischen einer Störung der Sprache und der Schädigung an einer bestimmten Stelle in der linken Gehirnhälfte und wurde so zum Namensgeber des >Broca-Zentrums< und der damit zusammenhängenden >Broca-Aphasie<. Diese Darstellung ist jedoch irreführend. Broca glaubte nämlich,
Pierre Paul Broca (1824-1880).
98 Das Schweigen von Monsieur Tan
er habe etwas ganz anderes entdeckt. Erst zwei Jahre später dämmerte ihm, dass er in der Neuen Welt seinen Fuß an Land gesetzt hatte und nicht in Japan. Besonders glücklich war er nicht darüber.
MONSIEUR TAN
Pierre Paul Broca war 1841 im Alter von siebzehn Jahren nach Paris gekommen, um Medizin zu studieren. In den vergleichenden Prüfungen und Wettbewerben, bei denen Assistenzstellen gewonnen werden konnten, war er so erfolgreich, dass er von seinem Vorhaben absah, nach dem Studium wieder nach Hause zurückzukehren und die Hausarztpraxis seines Vaters zu übernehmen. 1 1848 erhielt er eine Dozentur für Anatomie an der medizinischen Fakultät der Pariser Universität und wurde als Jüngster in der Geschichte der Societe dAnatomie dort Schriftführer. Im Alter von
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