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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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dreiundzwanzig Jahren schrieb er seinen ersten wissenschaftlichen Aufsatz - über die Anatomie des Klumpfußes der den Auftakt zu einem wahren Strom von memoires, observations, etud.es und notes zu Themen aus unterschiedlichsten Bereichen markierte: Krankheitslehre, Anatomie, Chirurgie, Anthropologie, Biologie, Neurologie, Archäologie. Zwischen seiner ersten und der letzten Veröffentlichung - einer Rede am Grab seines Kollegen Perier am 15. Mai 1880, keine zwei Monate vor seinem eigenen Tod - entstanden rund fünfhundert Artikel, nicht nur über Aphasie, sondern auch über Tumorbildung, Bluttransfusion, Hypnose, Nymphomanie und Krankenhaushygiene, über die Gebeine, die man in der Grotte von Mont-Maigre gefunden hatte, über den Schädel Friedrich Schillers, über die Hautfarbe von Schwarzen bei der Geburt, den Schädel und das Gehirn des Mörders Lemaire, den Ursprung der Kunst des Feuermachens, die Verbreitung der baski-schen Sprachen und die Herkunft der Kelten. 2 Im Laufe der Jahre verschob sich sein Interesse immer mehr in Richtung physische und kulturelle Anthropologie, doch Anfang der Sechzigerjahre gründete sein Ruf noch hauptsächlich auf seinem medizinischen Werk.
    Broca präsentierte das Gehirn eines Mannes, der seine Sprache verloren hatte, am 18. April 1861 während einer Sitzung der So-ciete d’Anthropologie. 3 Er hatte es erst einige Stunden zuvor aus dem Schädel des einundfünfzigjährigen Schuhmachers Leborgne herausgelöst. Im ausführlichen Autopsiebericht, der später im selben Jahr erschien, schrieb Broca, Leborgne sei in Bicetre schon lange unter dem Namen >Monsieur Tan< bekannt gewesen. 4 Monsieur Tan habe auf alle Fragen unbeirrt mit »tan tan« geantwortet. Wenn er wütend gewesen sei, habe er »Sacre nom de Dieu!« gerufen - doch darin habe sich sein gesamter Wortschatz bereits erschöpft. Er habe die Bedeutung dessen, was man zu ihm gesagt habe, noch verstanden, denn einen mündlich gegebenen Auftrag habe er ausführen können. Wenn er etwas habe deutlich machen wollen, habe er mit seiner linken Hand gestikuliert.
    Tan - wie ihn Broca selbst auch nannte - hatte eine traurige Krankengeschichte. Als Kind hatte er epileptische Anfälle. Seine Fähigkeit zu sprechen verlor er als Dreißigjähriger. Zehn Jahre vor seinem Tod war zunächst sein rechter Arm gelähmt, danach sein rechtes Bein. Er wurde bettlägerig, woraufhin er im Krankenhaus von Bicetre aufgenommen wurde. Dort ließ die Versorgung, wie Broca zugeben musste, sehr zu wünschen übrig. Seine Bettwäsche wurde nur einmal pro Woche gewechselt, Entzündungen an seinem gefühllosen Bein erkannte man erst, als sich bereits Wundbrand entwickelt hatte, weshalb man ihn auf Brocas chirurgische Station verlegte. Broca konnte ihm nicht mehr helfen, der Mann lag im Sterben.
    In den wenigen Tagen, die Tan noch bis zu seinem Tod blieben, wollte ihn Broca nicht mit langen Befragungen quälen. Während der allgemeinen Untersuchungen konnte er allerdings feststellen, dass Tan noch recht bei Verstand war. Auf die Frage, wie lange er bereits im Krankenhaus liege, öffnete er vier Mal seine linke Hand und zeigte daraufhin noch einen Finger. Er war tatsächlich seit einundzwanzig Jahren in Bicetre. Am nächsten Tag wiederholte Broca seine Frage: wieder vier Mal die geöffnete Hand plus einen Finger. Als Broca ihn am dritten Tag noch einmal fragte, erklang ein frustriertes »Sacre nom de Dieu!«. Auf die Frage, in welcher Reihenfolge seine Beschwerden aufgetreten seien, wies er zuerst auf die Zunge, dann auf seinen rechten Arm und schließlich auf sein rechtes Bein. Broca hatte festgestellt, dass mit der Zunge alles in Ordnung war, sie war nicht gelähmt und die Klangfarbe seiner Stimme war gut. Das wenige, was er sagen konnte, hörte sich völlig normal an. Mit Zunge, Lippen und Stimmbändern konnte Tan noch alle Bewegungen ausführen, die notwendig waren, um Worte zu bilden. Und dennoch konnte er nicht sprechen.
    Tan starb am 17. April und die Autopsie fand einen Tag später statt. Broca ließ den Schädel vorsichtig aufsägen und untersuchte zuerst den allgemeinen Zustand des Gehirns. Aus der erheblichen Menge Eiter zwischen den Hirnhäuten schloss Broca, dass das Gehirn viel von seinem ursprünglichen Umfang eingebüßt hatte. Nachdem er die Gehirnflüssigkeit hatte abfließen lassen, wog das Gehirn 987 Gramm, rund 400 Gramm weniger als das durchschnittliche Gehirn eines etwa fünfzigjährigen Mannes. An der linken Seite des Frontallappens

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