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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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an, seine Freunde vermuteten, dass sein Gedächtnis mittlerweile so schlecht geworden war, dass er schlichtweg zu trinken vergessen hatte. In jener Nacht schlief er schlecht: Er war gereizt, wiederholte ständig dieselben Fragen und wollte nicht allein gelassen werden. An den folgenden Tagen verstärkte sich seine Gereiztheit, und für seine Umgebung war es offensichtlich, dass er sich nichts mehr merken konnte. Er schlief kaum noch.
    Korsakow sah ihn am 30. Juni. Als Erstes fiel ihm auf, dass der Schriftsteller komplett vergessen hatte, was gerade passiert war. Der Patient wusste nicht mehr, ob er bereits gegessen und ob ihn an diesem Tag noch jemand besucht hatte. Alles, was länger als fünf Minuten zurücklag, schien gelöscht zu sein. Wenn man ihn an das erinnerte, was gerade vorgefallen war, meinte er, er habe schon immer ein schlechtes Gedächtnis gehabt. An die Zeit vor seiner Krankheit konnte er sich erinnern. So wusste er zum Beispiel noch, dass er im Juni begonnen hatte, eine Novelle zu schreiben. Er hatte bereits mehr als die Hälfte fertiggestellt, als die Krankheit eingesetzt hatte, nun jedoch vergessen, wie die Geschichte ausgehen sollte.
    Als sich die Krise ein wenig gelegt hatte, gelang es dem Schriftsteller, im täglichen Umgang geschickt den Anschein zu erwecken, dass alles in bester Ordnung war. Er argumentierte vollkommen logisch und unterhielt sich mit seinen Geprächspartnern über die unterschiedlichsten Themen, von »eher angesammeltem Geisteskapital« zehrend. 5 In Wirklichkeit jedoch war sein Gedankenhorizont sehr eng geworden. Wenn man ihn unterbrach, verlor er unmittelbar den Faden und begann seinen Bericht wortwörtlich zu wiederholen: mit denselben Wendungen, derselben Intonation. Besonders auffällig fand Korsakow, wie stereotyp seine Sätze waren. Derselbe Eindruck löste stets dasselbe Klischee aus, das in einem Ton erzählt wurde, als falle es ihm gerade ein.
    Korsakow sah aber noch etwas anderes. Trotz seines Gedächtnisschwunds schien es, als würden manchmal Spuren seiner Erfahrung bewahrt, »wahrscheinlich in der unbewussten Sphäre des psychischen Lebens«. 6 Der Patient war Korsakow vor seiner Krankheit nie begegnet, und obwohl er bei jedem Besuch erklärte, weder Korsakows Namen noch sein Gesicht zu kennen, wusste er nach dem ersten Mal, dass er es mit einem Arzt zu tun hatte.
    Ebenso auffällig war, dass der Patient endlos von Ereignissen erzählte, die gar nicht stattgefunden hatten. Er beschrieb bis ins kleinste Detail, wo er tags zuvor gewesen war, und wenn man ihn darauf hinwies, dass dies alles seiner Fantasie entsprang, wollte er es nicht glauben. Kurze Zeit später traten Lähmungen in den Gliedmaßen und der Atemmuskulatur auf und der Patient starb.
    Korsakow hatte dieselben Symptome bei einer ganzen Reihe anderer Patienten beobachten können. Immer wieder wurden >alte< Erinnerungen verschont, während von Erfahrungen neueren Datums nichts aufbewahrt wurde. Diese Kombination führte zu bizarren Situationen: Einer seiner Patienten konnte hervorragend Dame spielen, aber wenn man ihm das Damebrett wegnahm, bestritt er bereits wenige Minuten später, gerade noch Dame gespielt zu haben, ja stärker noch, er behauptete, es sei Jahrzehnte her, dass er zum letzten Mal gespielt habe. Ein anderer Patient, ein ehemaliger Anatom, konnte fast pedantisch genau erklären, wie das Blutgefäßsystem in irgendeinem beliebigen Körperteil beschaffen war, wusste sich aber an Ereignisse der letzten Viertelstunde überhaupt nicht mehr zu erinnern. Alle Patienten hatten ein schlechtes Gedächtnis für ihre eigenen geistigen Aktivitäten. Sie vergaßen, was sie gerade gesagt hatten, und begannen zum zehnten Mal in einer Stunde, dieselbe lange Geschichte zu erzählen. Einer von Korsa-kows Patienten las stundenlang dieselbe Seite der Zeitung und alle paar Minuten belustigte ihn derselbe Artikel, den er dann -»Ecoute donc, maman!« - zum x-ten Mal anfing vorzulesen. 7 Ein anderer Patient, so Korsakow, »erzählte mir während einer elektrischen Therapie, die noch keine zehn Minuten dauerte, bestimmt fünf Mal, dass er schon immer Angst vor Elektrizität gehabt und sich auf dem Gymnasium stets aus dem Physikunterricht gestohlen habe. Bei jeder Wiederholung erzählte er es, als sage er etwas völlig Neues, immer wieder in denselben stereotypen Sätzen. Ich wusste von vornherein, dass er, sobald ich die Elektrode auf seiner Haut anbringen würde, sagen würde: >Oh, vor Elektrizität hatte ich

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