Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
schon immer Angst.<« 8
Ein zweites, gerade für die Anfangsphase der Krankheit charakteristisches Symptom war die Konfabulation: Patienten füllten die Leere mit erfundenen Geschichten. Schon seit Monaten ans Bett gefesselt, berichteten sie, wohin sie tags zuvor gegangen waren. Durch die zeitliche Desorientierung und fehlende neue Erinnerungen hatten die Patienten nicht die geringste Vorstellung davon, wie lange sie bereits in der Anstalt waren, und sie unterschätzten oft ihr eigenes Alter. Weil sie die Reminiszenzen für jüngste Erinnerungen hielten, meinten sie unter den früheren Umständen zu leben. Manchmal redeten sie die Personen um sie herum mit den Namen alter Freunde oder lang verstorbener Familienmitglieder an.
Korsakows Patienten selbst fanden, dass im Grunde alles in Ordnung war. Sie bagatellisierten die Gedächtnisprobleme, sie hatten nicht das Gefühl, krank zu sein, bedauerten nicht den Verlust verloren gegangener Erinnerungen. Die meisten Patienten standen ihrem Zustand gleichgültig gegenüber, auch wenn manche fürchteten, gerade etwas Unangenehmes oder Ungehöriges gesagt zu haben.
Sobald sich der anfängliche Zustand ängstlicher Erregung gelöst hatte, konnte der Patient allmählich wieder ruhig und logisch denken. Was sich nicht oder kaum erholte, war das Gedächtnis. Manche Patienten lasen zu Beginn der Krankheit immer wieder denselben Abschnitt, ohne zu merken, dass sie ihn bereits gelesen hatten: >Genesung< hieß nicht viel mehr, als dass sie letztendlich den Abschnitt erkannten, ohne sagen zu können, was in ihm stand. Einer von Korsakows Patienten, ein Anwalt, erholte sich so weit, dass ihn eine Zeitung als Korrekturleser anstellte. Fehler fand er zielsicher, doch er musste peinlich genau jede Zeile mit einem Bleistift markieren, sonst hätte er immer wieder dieselbe Zeile gelesen. Später kehrte er in seinen ursprünglichen Beruf zurück und rettete sich mit Gemeinplätzen und der Routine von früher.
Korsakow erklärte die seltsame Selektivität der Gedächtnisstörung, das Verschwinden rezenter Erfahrungen und das Intaktbleiben >alter< Erinnerungen innerhalb des Rahmens, den Ribot in Les maladies de la memoire gezogen hatte. Nach Ribot erfahren Zellen, die von einem Reiz aktiviert werden, eine Veränderung, die dafür sorgt, dass eine erneute Aktivierung dieser Zellen nicht nur schneller verläuft, sondern dass auch die ursprüngliche Erfahrung wieder aufgerufen wird. Erinnerungen sind miteinander durch >Assoziationsbahnen< verknüpft, und je mehr Verbindungen zur Erinnerung führen, desto größer ist die Chance, dass gerade diese Erinnerung reproduziert wird. Nach Korsakow führte eine Vergiftung der Nerven dazu, dass die Nervenzellen nichts mehr fixieren konnten, doch der eigentliche Kern der Störung lag seiner Ansicht nach in der Zersetzung der Assoziationsbahnen. Erinnerungen werden zwar aufgezeichnet, doch die Fähigkeit, diese erneut zu erreichen, ist verloren gegangen. Sie bleiben als fragile, latente Spuren vorhanden und können das Verhalten beeinflussen, ohne ins Bewusstsein zu dringen. >Alte< Erinnerungen entkommen diesem Schicksal, da sie durch mehr Assoziationen festgelegt sind, öfter wiederholt wurden und besser eingeschliffen sind, weswegen sie sich leichter wieder aufrufen lassen. Aber auch diese Erinnerungen sind für den Patienten infolge der Zersetzung seiner Assoziationsfähigkeit schwer zu deuten, er kann ihnen in seiner gegenwärtigen Erfahrung keinen Ort geben, er weiß nicht, aus welcher Situation sie stammen, ob sie etwas sind, das er erlebt, geträumt oder fantasiert hatte; sie bleiben gespenstische Fetzen, die in seinem Bewusstsein herumtreiben. In einem seiner russischen Artikel beschrieb Korsakow den Fall einer Frau, die häufig von einer Reise nach Finnland berichtete, die sie vor ihrer Krankheit unternommen hatte. In ihre Erinnerungen flocht sie jedoch eine Reise auf die Krim ein, wodurch in ihrem Finnland Tataren wohnten, die unablässig Lammfleisch aßen.
Nach seinem Artikel in der Revue philosophique veröffentlichte Korsakow noch einige deutschsprachige Artikel über die medizinischen Aspekte der von ihm identifizierten psychischen Störung. Sie erschienen in psychiatrischen Zeitschriften, was kein Zufall war, denn gerade unter Psychiatern war die Störung kaum bekannt. Allgemeinmediziner und Gynäkologen stießen auf die Symptome als Komplikationen anderer Krankheiten wie Vergiftungen oder Wochenbettfieber. Daher war die Störung auch noch
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