Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Besuchen erzählte man ihm, Medynzeff sei ins Ausland gereist und kehre vorläufig nicht zurück. Erst dann - mittlerweile im Januar 1890 - kam P. zur Ruhe. Es schien, als sei er selbst zu dem Schluss gekommen, dass es in seiner Geschichte einige Ungereimtheiten gab. Er erwähnte sie nicht mehr und wollte auch nicht, dass andere sie noch zur Sprache brachten. Das Einzige, was noch an den Wahn erinnerte, war sein hartnäckiger Wunsch, eine Reise ins Ausland zu unternehmen -ausgerechnet in die Stadt, wo sich Medynzeff angeblich aufhielt.
Für Korsakow war P.s Wahnvorstellung ein Hinweis darauf, dass Erinnerungsspuren nie völlig verschwinden. In den Tiefen des Gedächtnisses, außerhalb des Zugriffs des Bewusstseins, können sie Verbindungen mit anderen Spuren eingehen. Bei P. hatte sich die Lebensgefahr, in der er selbst einige Wochen geschwebt hatte, vielleicht mit der Erinnerung an die Lebensgefahr verbunden, in der seine kranken Kinder einst gewesen waren, und dieses wunderliche Ganze aus falschen Assoziationen und realistischen Fragmenten war zu einem Zeitpunkt in seinem Bewusstsein aufgetaucht, in dem jenes noch zu schwach war, diese Vorstellungen zu korrigieren. Das beweise, meinte Korsakow, dass die Schwingungen neurologischer Spuren nie ganz verklängen. So betrachtet gebe es - ganz gleich, wie schwerwiegend der Gedächtnisverlust auch sei - in jedem Patienten etwas für ihn Charakteristisches, etwas, bei dem er trotz allen Schadens er selbst bleibe: »In seiner Seele dauert die Vibration aller Saiten an, die jemals geschwungen haben, es dauert der leise Nachklang all dessen an, was er je gedacht hat; freilich sind all diese Klänge ungleich stark, woraus - um bei der Metapher zu bleiben - in verschiedenen Fällen ungleiche Klangeffekte resultieren, gleichsam verschiedene Melodien, doch das Timbre dieser Melodien bleibt ein und dasselbe.« 14
THIAMIN
1897 organisierte Korsakow in Moskau den Zwölften Internationalen Medizinkongress. In der Sektion Neuropsychiatrie wurde ihm kollegiale Ehre von Friedrich Jolly zuteil, dem leitenden Professor der Nervenklinik der Berliner Charite. 15 Jolly erklärte, die Geistesstörung, die bei Polyneuritis auftrete, sei vereinzelt schon beschrieben worden, von niemandem aber so anschaulich und systematisch wie von Korsakow. Nach Korsakow sei jeder Anstaltsarzt in der Lage, ein Krankheitsbild zu erkennen, das man zuvor kaum wahrgenommen habe. Das galt offensichtlich auch für Jolly. Ab Dezember 1891, also kurz nach der Veröffentlichung von Korsakows deutschen Artikeln, hatte er begonnen, Angaben von Patienten zu sammeln, die mit Polyneuritis in seine Anstalt aufgenommen worden waren. Bis September 1897 waren dies 60 Fälle. Viele Patienten hatten eine Alkoholismus-Vergangenheit, aber es waren auch vier Fälle mit einer akuten Arsenvergiftung nach einem Selbstmordversuch darunter. Bei 22 Patienten hatte man ein Delirium festgestellt. Nachdem das Delirium gewichen war, hatten die Patienten keine Gedächtnisstörung mehr. Bei 19 Patienten kam die Gedächtnisstörung von Korsakow vor. Doch es gab auch 19 Patienten ohne Gedächtnisstörung. Das war alles andere als ein eindeutiges Bild: Polyneuritis konnte mit oder ohne Gedächtnisstörung auftreten, und zwar bei genau gleichviel Patienten. Außerdem hatte Jolly zwei Patienten ohne Neuritis, aber mit Gedächtnisstörung. Offensichtlich waren alle Kombinationen möglich, so dass zu diesem Zeitpunkt keine Schlussfolgerungen über die Ursache von Neuritis und der Gedächtnisstörung oder einen etwaigen Zusammenhang gezogen werden konnte. In solchen Fällen sei es das Beste, sich für eine möglichst neutrale Beschreibung zu entscheiden: »Wenn der Vorschlag angenommen wird, den Zustand als den Korsakow’schen Symptomenkomplex oder kürzer gesagt, das Korsakow’sche Syndrom zu bezeichnen, so wird damit für ein charakteristisches Krankheitsbild ein einfacher Ausdruck gewonnen, der nicht an irgendeinen hypothetischen Erklärungsversuch anknüpft und daher die weitere Diskussion vereinfacht.« 16 So wurde es also keine cerebropathia psychica toxae-mica, sondern das Korsakow-Syndrom, das in der Zeit nach Jolly mehr und mehr von der Neuritis gelöst und auf die Gedächtnisstörung beschränkt wurde.
Uber die wahrscheinliche Ursache waren sich Jolly und Korsakow einig. Ihrer Meinung nach war die Gedächtnisstörung nicht die direkte Folge der Einwirkung von Alkohol, Arsen, Blei oder anderen Giftstoffen. Es schien eher, als würden die
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