Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
nirgends ausführlich beschrieben worden: Ärzte konzentrierten sich auf die primäre Erkrankung und übersahen dabei die zweite Störung. Die psychischen Symptome treten gemeinsam mit körperlichen Beschwerden auf, die die Folge von Polyneuritis sind: Lähmungen, Krämpfe, Ödeme, Muskelschwund, unsicherer Gang, Doppeltsehen, verminderte Reflexfähigkeit. Die Krankheit beginnt mit einer Krise: »Der Kranke vermag die sich ihm aufdrängenden beunruhigenden Gedanken nicht loszuwerden und erwartet etwas Fürchterliches - den Tod, irgend einen Anfall, oder er weiß selbst nicht was; er fürchtet sich, allein zu bleiben, ruft ständig jemanden zu sich, seufzt, beklagt sein Schicksal. Von Zeit zu Zeit kommt wildes Geschrei vor, Anfälle, ähnlich den hysterischen, in denen der Patient sehr launisch ist, auf die Umgebung schimpft, nach den Personen in seiner Nähe wirft, sich an die Brust schlägt und dergleichen mehr. Besonders hochgradig pflegt die Unruhe nachts zu sein: die Kranken schlafen gewöhnlich fast gar nicht und lassen auch andere nicht schlafen, rufen sie beständig zu sich, verlangen, man solle bei ihnen sitzen, sie umdrehen, sich mit ihnen beschäftigen, etc.« 9
Korsakow schrieb, andere Ärzte hätten bereits hin und wieder auf diese Gedächtnisstörung hingewiesen, als erster Magnus Huss. 10 Dieser schwedische Arzt hatte 1849 den Begriff >Alkoho-lismus< eingeführt: Er wertete die Gedächtnisstörung als eine der Komplikationen im Zusammenhang mit Alkoholismus. Korsakow erklärte, er selbst habe nun als Erster gezeigt, dass diese Störung auch bei mehrfacher Nervenentzündung auftreten könne, die nicht durch Alkoholismus verursacht sei. Er habe bereits vierzehn Fälle beschrieben, bei denen die Beeinträchtigung der Nerven von anderen Krankheiten wie Typhus, Tuberkulose und Wochenbettfieber verursacht werde, oder von ganz unterschiedlichen Vergiftungen herrühre, wie zum Beispiel von Arsen, Blei, verdorbenem Getreide oder Kohlenmonoxid. Sogar ein in Verwesung übergegangener Fötus habe bei einer jungen Frau die charakteristische Gedächtnisstörung ausgelöst. Korsakow vermutete, dass in all diesen Fällen das vergiftete Blut Nervenentzündungen verursacht hatte, vor allem im Gehirn. Er gab der psychischen Störung einen
Namen, der den ursprünglichen Verlauf zusammenfasste: cere-bropathia psychica toxaemica, Gehirnkrankheit infolge von Blutvergiftung. In seiner eigenen Klinik in Moskau war gerade eine Frau gestorben, die an dieser Krankheit gelitten hatte. Bei der Autopsie hatte man tatsächlich in nahezu allen Nerven Entzündungen vorgefunden.
ALLE SAITEN, DIE JEMALS GESCHWUNGEN HABEN
Ein entzündetes Nervensystem konnte frühere Erinnerungen noch festhalten, doch keine neuen Erfahrungen mehr speichern. So standen Korsakows Patienten vor einer Zukunft, die wie eine leere Ebene vor ihnen lag, in der jeder Schritt sofort wieder ausgelöscht werden sollte. Aber auch auf das, was aus der Vergangenheit im Bewusstsein auftauchte, konnten sich seine Patienten nicht länger verlassen. Woran sie sich zu erinnern glaubten und was sich wie Erinnerungen anfühlte, entsprang in vielen Fällen ihrer Fantasie. Sie schienen die Fähigkeit eingebüßt zu haben, die Quelle ihrer Gedanken und Ideen zu identifizieren. Auch Dinge, die sie jemals geträumt, gelesen, gehört oder sich ausgemalt hatten, schienen im Bewusstsein nun den Charakter persönlicher Erinnerungen anzunehmen. Diese Erinnerungstäuschungen oder >Pseudoreminiszenzen<, wie Korsakow sie nannte, unterschieden sich von Patient zu Patient, hatten aber meist einen unheilverkündenden oder morbiden Charakter. 11 Korsakow war aufgefallen, dass sie oft mit dem Tod in Zusammenhang standen. Patienten erklärten, jemand sei gestorben oder sie seien gerade von einer Beerdigung zurückgekehrt, sie nannten den Namen des Verstorbenen und die Kirche, in welcher der Trauergottesdienst stattgefunden hatte. Erinnerungstäuschungen dieses Typs traten hauptsächlich bei Patienten auf, die selbst am Rande des Todes gestanden hatten - oder noch standen. Manchmal entwickelten sich die Täuschungen zu einem Wahn, der eine nachdrückliche Unruhe auslösen konnte. Zu einem solchen Fall war Korsakow im Herbst 1889 hinzugezogen worden.
P. war ein dreiundfünfzigjähriger Geschäftsmann. 12 Er hatte eine kräftige Konstitution, war ein mäßiger Trinker und erfreute sich bester Gesundheit, bis er am 21. August 1889 Typhus bekam. Drei Wochen lang hatte er hohes Fieber. Als das
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