Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Gifte im Stoffwechsel etwas auslösen, wodurch ein sekundärer, bis dahin noch nicht entdeckter Stoff produziert wurde, der für die Selbstvergiftung verantwortlich war. Etwas anderes, schrieb Jolly, könne er sich einfach nicht vorstellen. Letzteres ist wörtlich zu nehmen. Ein Arzt, der in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts ausgebildet wurde, war nicht mit dem Gedanken einer Mangelerkrankung vertraut. Es gab lediglich eine einzige Ausnahme: Skorbut, dem mit Sauerkraut oder Obst abzuhelfen war. Bei den Symptomen, die Korsakow wahrgenommen hatte, lag es eher nahe, an eine Infektion oder Vergiftung zu denken, als an eine Mangelerscheinung.
Dasselbe Unvermögen, in Begriffen von Mangel zu denken, spielte auch bei der Erforschung einer anderen Krankheit eine Rolle, die in gewisser Hinsicht dieselben Symptome aufwies wie die von Korsakow wahrgenommenen. 17 Als man in Niederlän-disch-Ostindien in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts Dampfmühlen baute, wurde es möglich, Reis zu schälen. Nach einiger Zeit bekamen Einheimische, die sich hauptsächlich von diesem Reis ernährten, eine Krankheit, die man Beriberi nannte. 1879 stellte der Arzt van Leent fest, dass indonesische Matrosen an Beriberi erkrankten, während der holländische Teil der Besatzung verschont blieb. 18 Er folgerte daraus, dass im Reis ein giftiger Stoff war, der sich im Körper ansammelte und schließlich die Krankheit auslöste. Ein solcher Stoff wurde nie entdeckt. In den Neunzigerjahren fand der Bakteriologe Christiaan Eijkman heraus, dass jene abgeschälten Hüllen gerade einen Stoff enthielten, der verhinderte, dass es zu einer Nervenentzündung kam. Indem er Hühner mit geschältem Reis fütterte, konnte er Polyneuritis experimentell hervorrufen und sie danach wieder heilen, indem er ihnen ungeschälten Reis gab. 1911 isolierte der Physiologe Funk einen Stoff, der bei Vögeln Polyneuritis heilte: Mit der Zusammenfügung von >vita< und >amine< gab er an, dass dieser Stoff für das Leben unentbehrlich war. 1936 wurde Thiamin, ein Vitamin der B-Gruppe, synthetisiert. In klinischen Studien sprangen Korsakow-Patienten häufig gut auf hohe Mengen Thiamin an. Vitamin Bl wurde für das Korsakow-Syndrom, was Vitamin C für Skorbut war, auch wenn Thiamin-Zugabe die Gedächtnisstörung nicht völlig zum Verschwinden bringen konnte.
Dass Thiamin der kritische Faktor war, zeigte sich auch in Untersuchungen von Personen, die aufgrund anderer Umstände als Alkoholismus oder Krankheit zu wenig Vitamin Bl erhielten. 1947 erschien eine Studie über die Beschwerden von Kriegsgefangenen, die in Südostasien aufgrund von Unterernährung an Beriberi erkrankt waren. 19 Nach ihrer Aufnahme in ein Krankenhaus in Singapur stellte man fest, dass sie innerhalb von sechs bis vierzehn Wochen nach dem Beginn der Gefangenschaft schwerwiegende Gedächtnisprobleme bekommen hatten.
Heutzutage werden korsakowartige Beschwerden bei einer ganzen Reihe von Leiden beschrieben, die im Zusammenhang mit Thiaminmangel stehen, z. B. häufiges Erbrechen während der Schwangerschaft, Erkrankungen des Verdauungstrakts oder Anorexia. Das Korsakow-Syndrom tritt auch als Komplikation bei Hungerstreiks oder einer Magenverkleinerung auf. Der menschliche Körper kann Vitamin Bl nicht lagern. Wenn es nicht mehr zugeführt oder aufgenommen werden kann, treten innerhalb weniger Monate Gedächtnisprobleme auf. Der russische Schriftsteller, die Frau, die Finnland mit Tataren bevölkerte, der Moskauer Geschäftsmann, der so verzweifelt die Leiche seines Freundes suchte, und all die anderen Patienten von Korsakow, Alkoholiker oder nicht, müssen schlichtweg zu wenig Nahrung mit Vitamin Bl zu sich genommen haben.
In Australien gab es in den Achtzigerjahren Überlegungen zu Präventivmaßnahmen. 20 Da man wusste, dass es sich dort beim typischen Korsakow-Patienten um einen Biertrinker handelte, schlugen Ärzte vor, dem Bier einfach Thiamin zuzufügen. Doch dies ließ sich nicht durchsetzen. Ernährungsberater hielten es prinzipiell für falsch, einem Produkt, von dem man wollte, dass es weniger konsumiert wurde, etwas Gutes hinzuzufügen. Bierbrauer fürchteten Geschmacksveränderungen und gaben zu bedenken, dass Korsakow-Patienten angesichts ihres schlechten Gedächtnisses keine verlässlichen Informanten bezüglich ihrer Trinkvergangenheit seien. Daraufhin beschloss man, Thiamin in Brot einzubacken, wie es in den meisten entwickelten Ländern bereits geschah, wenn auch nicht
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