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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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nicht vierundsechzig?«, fragte die Patientin und fügte sogleich hinzu, das sei ihr einfach so in den Sinn gekommen, ebenso gut hätte sie etwas anderes sagen können. Für Claparede stützten diese Befunde die Dissoziationstheorien von Pierre Janet, der in der französischsprachigen Welt als Erforscher der unbewussten Prozesse ebenso einflussreich war wie Freud. Die Patientin war nicht in der Lage gewesen, ihre Erinnerungen ihrem Bewusstsein anzugleichen, während diese ihr Denken und Erleben sehr wohl beeinflussten.
    Heutzutage sind Korsakow-Patienten beliebte Versuchspersonen für Experimente, die sich auf das seit den Achtzigerjahren so genannte >implizite Gedächtnis< berufen, jene Form des Gedächtnisses, das selbst bei sehr schwerwiegendem Gedächtnisverlust verschont bleibt, auch wenn es nicht bewusst zugänglich ist. Was bei Claparede noch eine eher beiläufige Beobachtung war, entwickelte sich in der Erforschung des impliziten Gedächtnisses zur experimentellen Technik: das erzwungene Raten. Versuchspersonen können aktiv nichts reproduzieren, aber raten öfter richtig, als man dem reinen Zufall zuschreiben kann. Diese geheime Fähigkeit zum Lernen kann in der Patientenpflege genutzt werden: Bei der Betreuung der Patienten in nicht allzu großen Wohngruppen können sich Routinen einschleifen, die eine gewisse Fähigkeit zur Selbsthilfe fördern. Und sogar für manche einmalige Erfahrungen ist die anterograde Amnesie, die das Korsakow-Syndrom definiert, nicht absolut. Es gibt Hinweise darauf, dass sich Ereignisse, die beim Patienten starke Gefühle auslösen - und die aus diesem Grund womöglich andere Gehirngebiete aktivieren als emotional neutrale Erinnerungen -, doch eingeprägen. Forscher aus der niederländischen Stadt Maastricht stellten fest, dass zwei von drei Korsakow-Patienten sieben Monate später berichten konnten, welche Katastrophe sich am 11. September 2001 abgespielt hatte. 28
    Hätte Sergej Korsakow das Rentenalter erreicht, hätte er die Isolierung von Vitamin und die Heilung von Polyneuritis bei Tieren noch miterlebt. Es hat nicht sein sollen. Mitten in einer produktiven Laufbahn, in einem Moment, als alle Kessel unter Dampf standen als Arzt, Autor und Forscher, erlag Korsakow 1900 im Alter von sechsundvierzig Jahren einem tückischen Herzleiden.

SCHER DICH ZUM TEUFEL, IDIOT! DAS TOURETTE-SYNDROM
    1893 erlebte Georges Gilles de la Tourette sein annus horribilis. ln der Nacht vom 15. auf den 16. August war vollkommen unerwartet Jean-Martin Charcot verstorben, sein Lehrmeister und Förderer in La Salpetriere in Paris. Gilles de la Tourette hatte ihn noch in der Woche zuvor in seinem Ferienhaus in Neuilly besucht. Gemeinsam hatten sie die Druckfahnen des Traite clinique et therapeuticjue de l’hysterie durchgesehen, worin Gilles de la Tourette die in La Salpetriere gesammelten Erkenntnisse über den Ursprung und die Behandlung von Hysterie beschrieben hatte. 1 Sie waren sehr gut miteinander zurechtgekommen. Im selben Jahr verlor Gilles de la Tourette seinen kleinen Sohn Jean durch eine Hirnhautentzündung. Und

    Georges Gilles de la am ß Dezember ereignete sich ein Zwischenfall, der Tourette (1857-1904). ,
    ihn beinahe das Leben gekostet hatte/
    Am frühen Abend läutete eine ganz in Schwarz gekleidete Frau an seiner Wohnungstür. Er selbst war nicht zu Hause, sein Diener öffnete. Sie fragte, ob sie Gilles de la Tourette sprechen könne. Der Diener bat sie, einen Augenblick zu warten. Als kurz darauf Gilles de la Tourette nach Hause kam, folgte sie ihm in sein Sprechzimmer, zog einen Zettel heraus, auf dem die Namen der Salpetriere-Ärzte Luys und Charcot standen, und erklärte, diese beiden hätten sie ruiniert. Sie verlangte von ihm fünfzig Francs. Gilles de la
    166 Scher dich zum Teufel, Idiot!
    Tourette schlug der geisteskranken Frau vor, sich unter seiner persönlichen Obhut in La Salpetriere einweisen zu lassen. Hierauf geriet die Frau in Wut, zog eine Pistole und feuerte dreimal auf Gilles de la Tourette. Nachdem sie sich auf diese Weise in die Geschichte der Neurologie geschossen hatte, setzte sie sich wieder und sagte, nun habe sie endlich Genugtuung bekommen -»Jetzt hat wenigstens einer für die anderen bezahlt« -, und wartete gelassen auf ihre Verhaftung. 3
    Durch eine glückliche Fügung des Schicksals hatte keine der Kugeln, von denen eine in den Hals gedrungen war, lebenswichtige Organe getroffen. Gilles de la Tourette überlebte den Anschlag. Aus der polizeilichen

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