Geisterbahn
konnte sich nicht entscheiden, ob sie im Prinzip ein guter oder ein schlechter Mensch war.
In ihrem Geist hörte Amy wieder die Stimme ihrer Mutter: In dir ist eine Dunkelheit. Etwas Böses ist in dir, und du mußt jede Minute dagegen ankämpfen.
Plötzlich fragte Amy sich, ob ihr schlampiges Benehmen nur ein Versuch war, es ihrer Mutter heimzuzahlen. Das war ein beunruhigender Gedanke.
»Habe ich mir von Jerry nur was in die Röhre schieben lassen«, sagte sie leise in die Dunkelheit, die sie umgab, »weil ich wußte, daß die Nachricht Mama zerbrechen wird? Zerstöre ich meine eigene Zukunft, nur um diesem Miststück weh zu tun?«
Sie kannte als einzige die Antwort auf ihre eigene Frage; sie würde in sich selbst danach suchen müssen.
Sie lag ganz still unter der Bettdecke und dachte nach.
Draußen bewegte der Wind die Ahornbäume in der Nähe des Hauses.
In der Ferne pfiff ein Zug.
Die Tür schrammte auf, und Dielenbretter ächzten unter dem Teppich, als jemand ins Zimmer trat.
Das Geräusch weckte Joey Harper. Er öffnete die Augen und schaute auf den Wecker, der im bleichen Leuchten des Nachtlichts auszumachen war: 12:36.
Er hatte anderthalb Stunden geschlafen, war aber nicht benommen. Er war augenblicklich wach und voll da, denn er konnte es kaum abwarten, wie Amy auf die Tarantel in ihrem Bett reagierte. Er hatte den Wecker auf ein Uhr gestellt, denn dann sollte sie wieder zu Hause sein; offensichtlich war sie früher gekommen.
Schritte. Leise. Verstohlen. Sie näherten sich.
Joey spannte sich unter den Laken an. Tat aber weiterhin so, als würde er schlafen.
Die Schritte hielten an der Seite seines Bettes inne.
Joey spürte, wie ein Kichern in ihm hochkam. Er biß sich auf die Zunge und kämpfte darum, sein Lachen zurückzuhalten.
Er würde noch ein paar Sekunden warten, und dann, wenn sie ihn gerade kitzeln wollte, würde er ihr ins Gesicht schreien und einen fürchterlichen Schrecken einjagen.
Er hielt die Augen geschlossen, atmete flach und gleichmäßig und zählte die Sekunden: eins ... zwei ... drei ...
Er wollte ihr gerade ins Gesicht schreien, als er merkte, daß die Person, die sich über ihn beugte, gar nicht Amy war. Er roch sauren, nach Alkohol stinkenden Atem, und sein Herz begann zu hämmern.
Ohne zu wissen, daß Joey wach war, sagte seine Mutter: »Süßer, süßer kleiner Joey. Mein kleines Baby. Mein Engel.
Süßes, kostbares kleines Engelsgesicht.« Ihre Stimme war unheimlich. Ein seltsamer, halb geflüsterter, halb gegurrter, kehliger, seidiger Strom undeutlicher Worte.
Er wünschte sich verzweifelt, daß sie wieder ging. Sie war sehr betrunken, schlimmer als sonst. Sie war schon öfter in sein Zimmer gekommen, wenn sie in so einem Zustand war. Sie hatte gedacht, er würde schlafen, und hatte zu ihm gesprochen. Vielleicht kam sie an viel mehr Abenden, als er es wußte; vielleicht schlief er manchmal tatsächlich. Auf jeden Fall wußte er, was nun kam. Er wußte, was sie sagen und tun würde, und er verabscheute es.
»Kleiner Engel. Du siehst aus wie ein kleiner schlummernder Engel, ein Babyengel, du liegst so unschuldig da, so zart, so süß.« Sie beugte sich noch näher und badete sein Gesicht mit ihrem scharfen Atem. »Aber wie bist du innen, kleiner Engel? Bist du ganz und gar süß und gut und rein?«
Hör auf, hör auf, hör auf.! dachte Joey. Bitte, mach das nicht schon wieder, Mama. Geh weg. Verschwinde von hier.
Bitte.
Aber er sprach nicht zu ihr, und er bewegte sich nicht.
Er ließ sie nicht wissen, daß er wach war, denn wenn sie so war, hatte er Angst vor ihr.
»Du siehst so rein aus«, sagte sie, und ihre vom Alkohol undeutliche Stimme wurde noch leiser, noch verschwommener. »Aber vielleicht ist dieses Engelsgesicht nur die Oberfläche ... die Maske. Vielleicht spielst du mir nur was vor. Nun? Spielst du mir etwas vor? Vielleicht... darunter ... vielleicht bist du genau wie der andere.
Bist du das, kleiner Engel? Bist du unter diesem süßen Gesicht wie der andere, das Ungeheuer, das Ding, das er Victor nannte?«
Joey hatte nie herausfinden können, wovon sie sprach, wenn sie sich des Nachts hier hereinschlich und betrunken vor sich hinmurmelte. Wer war Victor?
»Wenn ich einen wie dich hervorgebracht habe, warum nicht einen zweiten?« fragte sie sich laut, und Joey war der Ansicht, sie klinge jetzt etwas verängstigt. »Diesmal ...
vielleicht ist es ein Ungeheuer im Inneren. Im Geist. Innen ein Monstrum ... das sich in einem normalen Körper
Weitere Kostenlose Bücher