Geisterbahn
Skala des Radios verbreitete einen schwachen grünen Glanz.
Ellen Harper saß am Küchentisch. Genauer: Sie war darüber zusammengesunken, die Arme über der Tischfläche gefaltet, den Kopf auf den Armen ruhend, das Gesicht von der Schwelle abgewandt, auf der Amy stehenblieb. Ein hohes Glas, halb mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt, stand in Ellens Reichweite. Amy mußte das Getränk nicht pro bieren, um zu wissen, was es war; ihre Mutter trank immer dasselbe - Wodka und Orangensaft, und zuviel davon.
Sie schläft, dachte Amy erleichtert.
Sie wandte sich von ihrer Mutter ab, um sich aus dem Raum und oben ins Bett zu schleichen, doch Ellen sagte: »Du.«
Amy seufzte und schaute wieder zu ihr.
Ellens Augen waren verschwommen, blutunterlaufen; die Lider hingen herunter. Sie blinzelte überrascht. »Was machst du schon zu Hause?« fragte sie benommen. »Du bist über eine Stunde zu früh.«
»Jerry ist schlecht geworden«, log Amy. »Er mußte nach Hause.«
»Aber du bist über eine Stunde zu früh«, sagte ihre Mutter erneut und schaute verwirrt zu ihr hoch. Sie blinzelte noch immer duselig und versuchte, den Alkoholnebel zu durchdringen, der die Umrisse ihrer Gedanken aufweichte.
»Jerry ist schlecht geworden, Mama. Irgend etwas, das er auf dem Ball gegessen hat.«
»Es war ein Tanzabend, nicht wahr?«
»Klar. Aber es gab auch was zu essen. Hors d'ceuvres, Plätzchen, Kuchen, Punsch, alles mögliche. Irgend etwas ist ihm nicht bekommen.«
»Wem?«
»Jerry«, sagte Amy geduldig.
Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Bist du sicher, daß nicht mehr passiert ist?«
»Was meinst du?«
»Kommt ... mir komisch vor«, sagte Ellen mit schwerer Zunge und griff nach ihrem Glas. »Verdächtig.«
»Was ist denn daran verdächtig, daß es Jerry schlecht geworden ist?« fragte Amy.
Ellen nippte am Wodka mit Orangensaft. Sie betrachtete Amy über den Glasrand hinweg, und ihr Blick war schärfer als noch eine Minute zuvor.
Verärgert ergriff Amy das Wort, bevor Ellen Gelegenheit bekam, ihr Vorhaltungen zu machen. »Mama, ich bin nicht zu spät nach Hause gekommen. Ich bin früher nach Hause gekommen. Deshalb habe ich es wohl kaum verdient, dem üblichen dritten Grad unterzogen zu werden.«
»Werd nicht frech«, sagte ihre Mutter.
Amy schaute zu Boden und verlagerte nervös ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Weißt du nicht mehr, was der liebe Gott sagt?« fragte Ellen. »>Du sollst Vater und Mutter ehren.( Das sagt er. Ist nach all diesen Jahren der Gottesdienste und Bibelstunden denn gar nichts bei dir hängengeblieben?«
Amy antwortete nicht. Aus Erfahrung wußte sie, daß respektvolles Schweigen die beste Lösung war.
Ellen trank ihr Glas aus und stand auf. Als sie den Stuhl zurückschob, scharrte er laut über den gefliesten Boden. Sie kam leicht schwankend um den Tisch herum und blieb vor Amy stehen. Ihr Atem roch sauer. »Ich habe mich sehr, so sehr, bemüht, ein anständiges Mädchen aus dir zu machen. Ich habe dich in die Kirche gehen lassen.
Ich habe dich gezwungen, die Bibel zu lesen und jeden Tag zu beten. Ich habe dir Predigten gehalten, bis ich blau im Gesicht war. Ich habe dich alles gelehrt, was richtig ist.
Ich habe mein Bestes getan, um zu verhindern, daß du auf die schiefe Bahn kommst. Mir war immer klar, daß du beide Wege einschlagen konntest. Beide Wege. Den guten oder den schlechten.« Sie schwankte und legte eine Hand auf Amys Schulter, um sich festzuhalten. »Ich habe die Möglichkeiten in dir gesehen, Mädchen. Ich habe gesehen, es ist möglich, daß du böse wirst. Ich habe jeden Tag zu Unserer Lieben Frau gebetet, damit sie über dich wacht und dich behütet. Tief in dir gibt es eine Dunkel heit, und man darf ihr nie erlauben, an die Oberfläche zu kommen.«
Ellen beugte sich sehr nah heran, legte eine Hand unter Amys Kinn, schob den Kopf des Mädchens hoch und sah ihr in die Augen.
Amy hatte den Eindruck, eiskalte Schlangen würden sich in ihr strecken.
Ellen betrachtete sie mit einer eigentümlichen, betrunkenen Intensität, mit dem brennenden Blick einer Fieberkranken. Sie schien in der Seele ihrer Tochter zu lesen, und in ihrem Gesichtsausdruck lag eine Mischung aus Furcht und Zorn und harter Entschlossenheit.
»ja«, sagte Ellen nun im Flüsterton. »In dir ist eine Dunkelheit. Du könntest so leicht ausgleiten. Es steckt in dir.
Die Schwäche. Die Andersartigkeit. Etwas Böses ist in dir, und du mußt jede Minute dagegen ankämpfen. Du mußt vorsichtig sein,
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